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Angela Merkel und François Hollande schauten sich am Mittwoch gemeinsam im EU-Parlament um. Deutsch-französische Worte in Straßburg zur Lage der Union hatte es zuletzt 1989 gegeben.

Foto: Reuters/Kessler

Straßburg – Allein dass eine deutsche Bundeskanzlerin und der französische Staatspräsident gemeinsam vor das Plenum des Europäischen Parlaments treten, um das Wort zur Lage der Union zu ergreifen, sei "wirklich bedeutend". So leitete Präsident Martin Schulz Mittwochnachmittag in Straßburg den Höhepunkt des Arbeitsjahres der Abgeordneten ein: Zuletzt habe es das vor 26 Jahren gegeben, am 22. November 1989, kurz nach dem Fall der Berliner Mauer.

Helmut Kohl und François Mitterrand hatten damals am Rednerpult ihre mutigen Ideen für eine Neuordnung Europas, die Schaffung der EU wie der Währungsunion vorgezeichnet; die friedliche Wiedervereinigung des geteilten Deutschland, das Ende des Kalten Krieges, die Neuordnung der Nato, als es die Sowjetunion noch gab.

Immer wenn solch große Herausforderungen auf die Union und ihre Bürger zugekommen seien, sehe man, dass es "ohne die deutsch-französische Freundschaft keine europäische Einigung gegeben hätte", aber auch keine so tiefe Freundschaft zwischen den beiden Staaten, wenn das Einigungswerk in der EU nicht vorangetrieben worden wäre, so Schulz. Es mangelte also nicht an historischen Bezügen und Vorgaben, als zunächst Hollande und nach ihm Merkel ihre Erklärungen abgaben.

"Ein Wind der Freiheit"

Der Franzose erinnerte daran, dass 1989 "ein Wind der Freiheit über Europa hinwegfegte". Die Menschen hätten viel Hoffnung gehabt. Kohl und Mitterrand hätten den Weg aufgezeigt, wie man die Leute aus Mittel- und Osteuropa aufzunehmen habe, hätten "ihre Solidaritätserklärungen abgegeben". Heute stünden wieder große Umbrüche an, aber auf globaler Ebene, in den Kriegs- und Krisengebieten des Nahen Ostens und auch in unmittelbarer Nachbarschaft in der Ukraine. Es sei ein verständlicher erster Reflex, wenn manche nun glaubten, sie könnten sich durch das Hochziehen der Grenzen, durch den Rückzug ins Eigene den Problemen entziehen, sagte Hollande. Aber dies sei eine Täuschung, ein Irrtum.

Europa sei mit einer humanitären Krise konfrontiert, die aus Hass und Krieg entstanden sei, und es müsse sich der Verantwortung für die Flüchtlinge, die nach Europa kommen, stellen. Dazu sei er übereinstimmend mit Merkel bereit. Frankreich werde seine Verantwortung übernehmen, auch in militärischer Hinsicht im Kampf gegen den Terrorismus und den IS in Syrien und im Irak.

Zu spät erkannt

Auf europäischer Ebene gelte es, die Pläne für eine neue Migrations- und Asylpolitik sowie die Sicherung der Grenzen umzusetzen, die in den vergangenen Monaten auf den Tisch kamen. Der französische Präsident räumte ein, dass die Union zu spät erkannt habe, was auf sie zukomme. Aber jetzt gelte es, "nicht stehenzubleiben, sondern in der Integration voranzugehen". Stehenzubleiben würde zu einem Rückfall, "einem Zurückrollen" führen. Er sprach sich auch für eine kontinuierliche Vertiefung der Währungsunion aus, ein freiwilliges Zusammenrücken jener Eurostaaten, die das wollten: "Niemand kann die Augen verschließen gegenüber der Realität. Es gibt keine Grenzen, die stark genug sind, keinen Stacheldraht, der hoch genug ist, gegenüber den Herausforderungen und Gefahren, die auf uns zukommen."

Ganz auf dieses "starke Europa" setzte nach ihm – inhaltlich weitgehend übereinstimmend – Kanzlerin Merkel. So wie 1989, "als auch ich (in der DDR, Anm.) von der Freiheit in Europa geträumt habe", seien große Kraftanstrengungen erforderlich, betonte sie. Die Flüchtlingswelle sei "eine Bewährungsprobe historischen Ausmaßes für ganz Europa".

Dublin-Abkommen obsolet

Man dürfe aber nicht vergessen, dass die Menschen vor schrecklichen Bürgerkriegen fliehen, auch weil "unsere Bemühungen keinen Frieden gebracht haben". Es entspreche den Werten, dem Recht und den Grundlagen der Union, ihnen zu helfen, unabhängig davon, ob sie später bleiben könnten oder nicht, sagte Merkel. Das bestehende Asylsystem nach Dublin-3 sei "gut gemeint gewesen, aber obsolet". Es gelte nun, die Ursachen für die Flucht stärker zu bekämpfen und ein neues Asylsystem, eines der fairen Lastenaufteilung, zu schaffen. Entscheidungen müssten rasch kommen.

"Wenn wir uns abschotten, ist niemandem gedient", sagte die Kanzlerin und erinnerte daran, was Kohl 1989 für nötig bezeichnet hatte: "Klugheit, Augenmaß, Einfallsreichtum und Flexibilität". (Thomas Mayer, 7.10.2015)