Bild nicht mehr verfügbar.

Magnus Carlsen hatte in der Hofburg 160 Figuren auf 320 Feldern vor seinem geistigen Auge parat. Und gewann drei von fünf Partien.

Foto: APA/ÖSB/GERHARD PEYRER

Fünf Spiele simutan. Blind, wohlgemerkt.

ruchipchannel

Wien – Er darf das irgendwie. In der Wiener Hofburg warf Magnus Carlsen, Schachweltmeister und ehemaliges Model für ein niederländisches Modelabel, die Kleiderordnung über den Haufen. Vor 200 Rechtsanwälten im Saal war der 24-jährige Norweger der Einzige ohne Krawatte und Sakko.

Kurz vor Beginn der WM im Schnell- und Blitzschach spielte Carlsen im Rahmen einer Anwaltskonferenz in Wien ein Simultanmatch gegen fünf Gegner – mit verbundenen Augen und stark beschränkter Bedenkzeit. Die Züge wurden dem "blinden" Weltmeister mündlich übermittelt. Erstaunlich, was das menschliche Gehirn auch ohne chemische oder elektronische Unterstützung zustande bringt: Der Blindsimultanspieler musste 160 Figuren auf 320 Feldern vor seinem geistigen Auge gleichzeitig parat haben. Für die Gegenzüge blieben Carlsen jeweils nur Sekunden.

Der Abend verlief durchaus turbulent. Einer der beiden Moderatoren verhaspelte sich beim Ansagen der Züge, zwischenzeitlich herrschte Unklarheit über den Stand der Dinge auf einem Brett. Zwei Partien verlor Carlsen durch Zeitüberschreitung, die restlichen drei gewann er locker, woraufhin er mächtigen Applaus der Anwälte erntete. Mag sein, der eine oder andere hatte da schon seine Krawatte gelockert.

STANDARD: Obwohl das Gehirn bekanntlich auch Teil des Körpers ist, wird Schach nicht überall als Sportart betrachtet. Was ist es für Sie? Sport, Kunst oder gar Wissenschaft? Oder sehen Sie es einfach nur als Mind-Game?

Carlsen: Es ist alles zusammen. Im Turnier und im Wettkampf ist es der sportliche Aspekt, in der Vorbereitung und im Training der wissenschaftliche, und manchmal, wenn besondere Manöver oder Kombinationen gelingen, kann man auch gut den ästhetischen Aspekt im Schach erkennen. Und Spiel ist es immer.

STANDARD: Für Exweltmeisterin Susan Polgár ist das Wichtigste, dass man am Schachbrett lernt, für Entscheidungen die Verantwortung zu übernehmen, und dass man bei jedem Zug auch die Perspektive des anderen einnehmen muss. Was kann man im Spiel lernen?

Carlsen: Aus meiner Sicht repräsentiert Schach vor allem intelligente Strategie, Taktik und Disziplin. Und natürlich ist Schach die beste Schule, um Lernen zu lernen, der beste Weg dazu, unabhängig von Region, Sprache, Land oder Kontinent. Es ist deshalb schon in der Schule wichtig. Für mich gesprochen: Ich möchte einfach ständig lernen, und ich lerne immer, wenn ich spiele. Mein Spiel war zuletzt nicht immer perfekt, aber ich versuche es ständig zu verbessern. Der Tag, an dem ich aufhöre zu lernen, wird auch der Tag sein, an dem ich aufhören werde zu spielen.

STANDARD: Sie haben praktisch alles gewonnen, sind seit 2013 Weltmeister im klassischen Schach, im Schnell- und Blitzschach und führen seit Jahren die Weltrangliste überlegen an. Was war eigentlich Ihr größter Erfolg?

Carlsen: Sie werden lachen – der Gewinn der norwegischen Meisterschaft der unter Elfjährigen im Jahr 2000. Ganz ernsthaft! Weil ich vorher nie der Stärkste in meiner Altersgruppe war. Es war das erste große Ding, das ich gewann.

STANDARD: Wen erwarten Sie 2016 als Ihren WM-Herausforderer?

Carlsen: Schwer zu sagen. Es gibt etliche starke Spieler zwischen 20 und 25, die infrage kommen. In den nächsten Jahren natürlich auch der jetzt erst 16-jährige Chinese Wei Yi. Es ist sehr schwer vorauszusagen, ob er "nur" ein Top-Ten-Spieler sein oder einmal zu den Allerbesten gehören wird.

STANDARD: Am Samstag beginnt die Blitz- und Schnellschach-WM in Berlin. Werden Sie Ihre beiden Titel verteidigen können?

Carlsen: Im Blitzturnier habe ich gute Chancen. Mit einem Titel wäre ich schon glücklich. Schnellschach finde ich schwieriger. Du beginnst im klassischen Modus, wechselst dann in den Blitzmodus. Das Switchen ist kompliziert. Blitz ist einfacher, weil man von Anfang an schnell spielen muss.

STANDARD: Gibt es andere Interessengebiete, denen Sie sich in Zukunft neben dem Schach widmen wollen?

Carlsen: Wir werden sehen. Es kommt einfach darauf an, ob und wie lange ich mich motivieren kann. Im Moment bin ich zufrieden und genieße es, einfach zu spielen. (Michael Ehn, Ernst Strouhal, 9.10.2015)