Ralph Müller-Eiselt (li.) und Jörg Dräger schreiben von der digitalen Bildungsrevolution.

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Lernen allein mit dem Tablet? So könnte die Zukunft aussehen.

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Die meisten Hochschulen filmen Vorlesungen bereits – und stellen sie ihren Studierenden im Netz zur Verfügung.

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So wie die Digitalisierung Industrie und Handel, unsere Arbeit und unseren Alltag verändert hat, wird sie zusehends auch das Bildungssystem verändern, schreiben Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt in ihrem neuen Buch Die digitale Bildungsrevolution. Dräger ist als Bildungsexperte im Vorstand der Bertelsmann-Stiftung tätig, Müller-Eiselt forscht dort zu den Auswirkungen von Digitalisierung auf die Gesellschaft.

Das Ziel der Autoren mit ihren Aufzeichnungen: Bildungsakteure dazu zu bringen, den Wandel, "der nur eine Frage der Zeit ist", nicht nur geschehen zu lassen, sondern zu nutzen.

Denn ihrer Meinung nach bietet er entscheidende Vorteile, allen voran: die Demokratisierung des Bildungssystems. "Bisher exklusive Angebote werden über wenige Mausklicks für jeden Interessierten zugänglich."

Österreich vs. USA

Die meisten Hochschulen in Deutschland und Österreich bieten bereits Online-Streams von Vorlesungen an, machen Unterlagen im Netz zugänglich.

In den USA ist man schon viel weiter, wie Dräger und Müller-Eiselt beschreiben: Sogenannte Moocs ersetzen dort bereits ganze Studien. Die offenen Online-Kurse bestehen aus Videos von Vorträgen, ergänzt durch Übungsaufgaben und Quizzes. Sie werden von den besten Unis des Landes zur Verfügung gestellt. Alle haben Zugang. "Es zählt nicht mehr die Leistung vor der Hochschule, sondern die in der Hochschule: Keiner bleibt mehr wegen Abiturnoten oder begrenzter Studienplätze außen vor." Jeder kann sich an den Moocs versuchen, am Ende entscheidet, ob man die Prüfung besteht.

Weiter gedacht könne das digitale Lehrangebot auch an individuelle Voraussetzungen, Begabungen und Ambitionen angepasst werden. "Die Digitalisierung vereint scheinbar Unmögliches", sagen Dräger und Müller-Eiselt. "Massenhaft zugängliche und persönlich zugeschnittene Bildung ist dank Videos, Lernspielen und Moocs kein Widerspruch mehr. Mittels adaptiver Lernsoftware und intelligenter Algorithmen sind auf die Fähigkeiten und das Lerntempo des Einzelnen abgestimmte Aufgaben möglich."

Lehrende als Begleiter

Lehrende könnten den Fortschritt der Studenten und Schüler einfach und umfangreich dokumentieren. Auch ihre Rolle wandelt sich: "Auf ihren Wissensvorsprung können Pädagogen in Zeiten von Suchmaschinen und sozialen Netzwerken nicht länger bauen. Ihre Autorität besteht künftig in der Fähigkeit, Orientierung und Feedback zu geben." Die rhetorisch Besten unterhalten Schüler und Studenten in Videos.

Geht es nach den Autoren, sollen digitale Technologien aber nicht nur beim Lernen und Lehren, sondern auch bei der Jobsuche helfen. "Sie können dazu beitragen, den Zugang zum Arbeitsmarkt offener und fairer zu gestalten", schreiben sie. Big Data könne ein Instrument sein, um "eine größere Bandbreite an Wissen zu erfassen, lebenslanges Lernen und informelle Abschlüsse zu berücksichtigen und bewertbar zu machen". Ebenso könne auf diese Weise online erworbenes Wissen anerkannt und in traditionelle Abschlüsse übersetzt werden. Ausgewertete Daten, erfasst aus digitalen Spuren wie Postings, Tweets oder der Wortwahl in einem Anschreiben, liefern Hinweise darauf, wer der richtige Kandidat, die richtige Kandidatin ist.

Damit schließlich "Jobs und Jobsuchende schneller zusammenfinden", brauche es nur noch das nötige Vertrauen der Arbeitgeber in die digitalen Kompetenzprofile. Computerspiele würden die spätere Performance im Job zeigen. Auch hier gilt wieder: Nicht Herkunft und Sympathie entscheiden, sondern zunächst neutrale Daten geben Aussagen über das Potenzial für die Zukunft.

Notwendige Rahmenbedingungen

Die Risiken einer digitalisierten, auf individuelle Bedürfnisse ausgerichteten Bildung verschweigen die Autoren nicht: "Sie geht mit der Preisgabe der eigenen Daten einher – es droht der Kontrollverlust." Ein zweiter Nachteil: "Computerbasierte Programme beruhen nur auf Wahrscheinlichkeiten." Schnell würden diese Wahrscheinlichkeiten zu Fehlinterpretationen führen, die im schlimmsten Fall die Karriere kosten. Auch die Gefahr, dass Bildungsinstitutionen aus den Daten Kapital schlagen oder sie dazu missbrauchen, "Schwächere auszusortieren, anstatt sie zu fördern", bestehe. Die Universitäten müssten daher ein klares Bekenntnis zur Geheimhaltung abgeben.

Notwendig seien außerdem Gesetze, die Datensouveränität gewährleisten: Jeder Bürger bleibt Eigentümer seiner Daten und kann die Rechte zu klar definierten Zwecken abtreten. "Auch die Bildungseinrichtungen brauchen entsprechende Rechtssicherheit bei der Nutzung von digitalen Lernmaterialien." Pädagogen müssten geschult, analoge Lehrinhalte digital aufbereitet, neue Bewertungs- und Anrechnungskriterien gefunden werden – auch für Lehrkräfte: "Onlinelehre muss auf das Deputat anrechenbar sein. Wenn ein Professor eine Onlinevorlesung gibt, sollte er weniger Präsenzlehre machen müssen." Zudem müssten Gründer im Bildungsbereich gefördert werden.

Einsatz für Deutschkurse

Es gelte, um von amerikanischen Angeboten nicht abgehängt zu werden, "die digitale Dynamik nicht länger zu ignorieren", denn: "Aussitzen ist keine Lösung."

Digitale Angebote könnten "viel mehr Bildung für viel mehr Menschen ermöglichen als bisher", argumentieren die Autoren wieder und wieder – und plädieren für deren Einsatz für die ankommenden Flüchtlinge. "Wenn jetzt hunderttausende Menschen die deutsche Sprache lernen sollen und müssen, werden die sich dann wirklich alle in Kleingruppen in einen Klassenraum mit einem Sprachpädagogen setzen können? Der Aufbau einer solchen Infrastruktur wäre teuer und würde viel zu lange dauern", sagt Dräger zur deutschen Zeitung Die Welt. "Mit Online-Sprachkursen, auch auf dem eigenen Smartphone, ist das schneller und effektiver zu haben." (Lisa Breit, 10.10.2015)