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Der Weg des Ausgleichs verhinderte eine Konfrontation zwischen Islamisten und ihren Gegnern, so Friedensforscher Brzoska.

Foto: AP Photo/Amine Landoulsi

STANDARD: Der diesjährige Friedensnobelpreis geht an das Tunesische Nationale Dialogquartett für seine Verdienste um die junge Demokratie in dem nordafrikanischen Land. Hatten Sie mit dieser Entscheidung des Komitees gerechnet?

Brzoska: Ich hatte Tunesien im Vorfeld durchaus auf meiner Liste, weil man dort in den vergangenen Jahren viel geschafft hat, was den Preis möglicherweise rechtfertigen könnte. Allerdings hatte ich nicht unbedingt mit dem Dialogquartett gerechnet, sondern eher mit Personen wie dem früheren Präsidenten Moncef Marzouki.

STANDARD: Wollte das Osloer Komitee ein Zeichen setzen, dass der Arabische Frühling eben doch nicht überall gescheitert ist?

Brzoska: Tunesien gilt vielen als einziger Erfolgsfall des Arabischen Frühlings. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob etwa der Bürgerkrieg in Syrien eine direkte Folge davon ist, haben sich in allen anderen Ländern entweder die alten Eliten wieder zurückgemeldet oder es herrscht Bürgerkrieg. Einzig in Tunesien hat der Arabische Frühling zu einer Öffnung der Gesellschaft geführt.

STANDARD: War das nun ausgezeichnete Quartett da federführend?

Brzoska: Ja, weil man es geschafft hat, eine Konfrontation zwischen Islamisten und ihren eher liberalen Gegnern zu verhindern. Das Dialogquartett hat viele gesellschaftliche Gruppen zusammengebracht, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, große Berufsgruppen, vor allem Anwälte, Menschenrechtsaktivisten. So hat man eine sehr breite gesellschaftliche Basis für Gespräche geschaffen. Das Erstaunlichste war, dass sich auch die damals regierende islamistische Ennahda-Partei an diesen Gesprächen beteiligt hat – natürlich auch aufgrund der Unruhen im Land –, freiwillig zurückgetreten ist und Neuwahlen ermöglicht hat. Das war der entscheidende Punkt, der in Tunesien zu einer Stabilisierung der politischen Landschaft geführt hat. Und das ist durchaus die Leistung des Dialogquartetts.

STANDARD: Viele hatten eher Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der Rechnung. Wollte man in Oslo nicht noch einmal einen aktiven Politiker auszeichnen?

Brzoska: Ich persönlich hatte Frau Merkel aufgrund der Vermittlerrolle Deutschlands im Ukraine-Konflikt und wegen ihrer Flüchtlingspolitik auch als eine der Favoritinnen gesehen. Allerdings muss man beachten, dass das Nobelpreiskomitee gerne überrascht und die Gewinner nur selten im Vorfeld unter den Favoriten waren. Merkel gehörte für mich zwar zum engeren Kreis, aber nicht mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als zehn Prozent.

STANDARD: Was bedeutet der Friedensnobelpreis für die tunesische Demokratie?

Brzoska: Ich denke, es bringt eine Stärkung der Politik des Ausgleichs. Die neue Regierung, die zwar konservativ ist, aber im westlichen Sinne liberaler als die islamistische Vorgängerregierung agiert, wird sich bestärkt fühlen, auch in Zukunft alle gesellschaftlichen Gruppen einzubinden. Das dürfte in Tunesien aufgrund der wirtschaftlichen Krise und des Drucks, der auf der Regierung lastet, zwar nicht einfach werden. Trotzdem glaube ich, dass der Preis in Tunesien selbst und in den Nachbarländern als Signal verstanden wird, in Transformationsprozessen den Weg des Ausgleichs zu suchen. (Florian Niederndorfer, 9.10.2015)