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Archivbild des des Nationalen Dialogquartetts aus dem Jahr 2013.

Foto: REUTERS / Zoubeir Souissi

Der Friedensnobelpreis 2015 geht an das eher nur Tunesien-Beobachtern bekannte tunesische "Nationale Dialogquartett" – und diese Würdigung folgt dem bewährten Muster, dass vom Nobelpreiskomitee Leistungen anerkannt, aber gleichzeitig Hoffnungen für die Zukunft ausgesprochen werden. Das "Quartett" wird für seinen Beitrag bei dem großen Projekt geehrt, Tunesien auf den Weg Richtung pluralistische Demokratie zu bringen und zu halten, und in der Tat ist ja Tunesien das einzige Land des "Arabischen Frühlings" von 2011, bei dem sich die politischen Hoffnungen so einigermaßen erfüllt haben. Die Jahre nach dem Sturz von Präsident Ben Ali waren schwierig – viel schwieriger als es sich die enthusiastischen Beteiligten und Zuschauer 2011 vorstellen konnten –, aber der politische Prozess, der auch in Tunesien mehr als einmal zu entgleisen drohte, ist weiter auf Schiene.

Die mit dem Nobelpreis gewürdigte Gruppe besteht aus Arbeitergewerkschaft (UGTT), Industrie und Handelsunion (UTICA), Menschenrechtsliga (LTDH) und Rechtsanwaltsvereinigung – also teilweise keine NGOs im klassischen Sinne, sondern mit einer Verankerung in Institutionen. Die Existenz dieses Formats zeigt auch gleich den großen Vorteil, den Tunesien anderen Umsturzländern gegenüber hatte und hat: signifikante säkulare Organisationen, die in diesem Fall doch auch erkannten, dass man sich auch mit dem religiösen Anteil im Land – der sich nach 2011 als viel höher als erwartet herausstellte – auseinandersetzen und zusammenraufen muss.

Dass Tunesien schon völlig über dem Berg ist, würde trotzdem wohl niemand zu behaupten wagen. In der Nachbarschaft ist Libyen völlig entgleist – aber auch da gibt es ja gerade wieder einen Hoffnungsschimmer für die Beilegung eines Konflikts, der die Züge eines Bürgerkriegs trägt. Die Grenzen zu Tunesien sind durchlässig. Aber Tunesien hat auch selbst ein hausgemachtes beträchtliches Extremismusproblem und ist ein Exporteur von Jihadisten in andere Länder – die eines Tages wieder zurückkommen werden. Der radikale Salafismus, den die erste, von der Muslimbruder-Partei Ennahda angeführte Regierung, anfangs geflissentlich ignorierte – wohl auch um der Wählerstimmen Willen –, ist im Landesinneren teilweise stark. So gesehen gibt es zwei verschiedene Tunesien.

Gerade die Küstengebiete, die das Tor nach außen sind, sind jedoch besonders gefährdet: Für die Wirtschaft sind die Großattentate auf touristische Ziele eine Katastrophe, viel mehr könnte das Land nicht mehr verkraften. Denn auch in Tunesien warten Millionen junge Menschen auf ihre Chance: Nur wenn man ihnen Perspektiven bietet, werden sie zu Hause bleiben. Der Friedensnobelpreis an das tunesische "Nationale Dialogquartett" ist eine Würdigung der Einsicht, dass nur eine nationale Anstrengung unter Beteiligung aller Kräfte die fragilen Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens in eine für ihre Menschen lebenswerte Zukunft führen kann. (Gudrun Harrer, 9.10.2015)