Am Cabo de São Vicente, am südwestlichsten Punkt Europas, fällt das Land senkrecht ins Meer. Ein atemberaubender Platz, den ein rot-weiß geringelter Leuchtturm markiert und Steilklippen mit karger Vegetation umgeben. Tagsüber drängeln sich Sightseeing-Kolonnen auf dem Hochplateau. Am Abend muss man die Faszination des Kaps nur mit den wenigen teilen, die auf den Sonnenuntergang warten – und frühmorgens mit ein paar Wanderern, die von hier aus zur Rota Vicentina aufbrechen.

Wo einander Land und Meer so spektakulär begegnen, steht eine Tafel mit Infos zu diesem vor zwei Jahren eröffneten Fernwanderweg. Er führt etappenweise durch den 75.000 Hektar großen Naturpark Sudoeste Alentejano e Costa Vicentina, der im Südwesten Portugals Felsen, sandige Buchten, Lagunen, Dünen und Schluchten schützt. Eine Gegend voll wilder Schönheit, großer Artenvielfalt und unberührter Landstriche.

Bild nicht mehr verfügbar.

Der Wanderer kann sie auf Fischerwegen, den "Trilhos dos Pescadores", oder auf historischen Wegen, den "Caminhos Históricos" im Hinterland erkunden. Es bleibt ihm überlassen, ob er von Norden nach Süden geht, an der mittelalterlichen Burg von Santiago do Cacém startet und am Cabo de São Vicente ankommt. Dafür entscheiden sich die meisten, aber man kann es auch genau umgekehrt machen. Die Rota Vicentina ist in beide Richtungen bestens ausgeschildert.

Die erste Etappe führt nach Vila do Bispo auf einer Schotterpiste neben der Küstenlinie. Thymian, Lackzistrosen, Schopflavendel, Stechginster und Rosmarin besiedeln den kargen Boden, deren Blütenduft sich im Frühjahr unter die Salzluft mischt. Irgendwann findet der Wanderer, dass er, wo er doch schon so nah am Steilufer ist, es auch mal richtig sehen will, die offiziell ausgewiesene Route ihn dorthin aber gar nicht lenkt. Deshalb wählt er einen der Sandwege zum Meer. Was nicht verboten, aber auch nicht im Sinne der Naturparkverwaltung ist, die die Vegetation ja erhalten will. Doch zu deutlich sind die zwischen Meerlavendel und Wacholderbüschen verlaufenden Trampelpfade, die die Fischer ohnehin nehmen und viele Besucher eben auch.

Senfbraun und Honiggelb

An der Kliffkante tut sich eine Symphonie der Farben auf: senfbraun der Kalkstein, smaragdgrün das Meer, honiggelb die Buchten, terrakottarot die Erde. Das Gefühl von Freiheit und Naturgewalt verzaubert und verschreckt. Denn da unten schäumt das Meer, spuckt immer wieder eine neue Ladung Wellen in Höhlen und Grotten, klatscht gegen Felswände und Gesteinsrücken, die wie geschichteter Blätterteig aussehen. Geformt vor über 300.000 Jahren.

Bild nicht mehr verfügbar.

Zwischen dem Südwestkap und Aljezur erkennt man an den im Fels verankerten Seilen die Arbeitsplätze der Fischer. Nicht auf Fisch oder Langusten gehen sie los, sondern auf Entenmuscheln, ein Krustentier, das zur Familie der Rankenfußkrebse gehört. Eine traditionelle Spezialität, vielleicht die exotischste Europas, die es nur an Felsküsten des Atlantiks gibt. Im gefährlichen Brandungsbereich liegt das Jagdrevier der Perceveiros, wie die Männer heißen, die Perceves sammeln. Der schmackhafte Muskel der fingerdicken, etwa fünf Zentimeter langen Tierchen ist es, auf den sie es abgesehen haben.

Wo Geologie und Pflanzen Geschichten haben

Vila do Bispo ist die Hochburg der Perceves. Gegenüber der barocken Pfarrkirche liegen Snack-Bars wie Pesqueiro Novo oder Convívio, Stammbeisl der Entenmuschelsammler. Wenn es welche gibt – hier kann man die Krebstiere kosten. "Sie sind rar geworden", erklärt Nicolau da Costa und begründet es mit Meeresverschmutzung und Überfischung.

Bild nicht mehr verfügbar.

Der Landschaftsarchitekt ist an der Costa Vicentina geboren, in die Welt gereist, aber an den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt. Ihm sei nur eines heilig: die Natur. Deshalb macht der 40-Jährige beim Projekt Rota Vicentina mit, führt Wandergruppen zu den Steilklippen, wo Geologie und Pflanzen Geschichten haben. Da Costa erzählt sie, weil der Mensch nur liebe, was er verstehe.

Ganz schön kalt

Von Carrapateira bis nach Vila Nova de Milfontes sollte man Badezeug im Rucksack haben. Denn inmitten der Felsenwelt öffnen sich ständig herrliche Strandbuchten wie die Praia do Amado, da Bordeira oder Odeceixe. Der Wanderer legt die verschwitzten Kleider ab und rennt in die Wellen. Doch Achtung! Das ist Atlantikwasser – und dadurch selbst im Hochsommer ganz schön kalt.

Bild nicht mehr verfügbar.

Zurück auf dem Klippentrail, peilt man Zambujeira do Mar an. Die Algarve hat der Wanderer gerade verlassen, jetzt geht er im Alentejo weiter. Die größte Überraschung sind hier die Weißstörche auf Felsennestern. Der Abschnitt bei Azenhas do Mar gilt als weltweit einziger Platz, wo die Schreitvögel auf Riffen im Meer brüten und ganzjährig bleiben.

Schweizer Idee zum Wandern

"Neunzig Prozent der Wanderer bevorzugen die Fischerwege", sagt Rudolf Müller, der gebürtiger Schweizer ist und die Idee zum Wanderweg hatte. Die völlig unverbaute Felsenküste spiele in der ersten Liga landschaftlicher Highlights weltweit, findet der Vize-Präsident der Rota Vicentina. "Der Historische Weg kann es vielleicht nicht mit Orten wie Delphi oder Ephesos aufnehmen", ergänzt er, doch er verbinde authentische, lebendige Dörfer auf dem schönstmöglichen Weg. An der Streckenführung werde ständig gearbeitet. Gerade wurde die Route von 350 auf 400 Kilometer verlängert, das nächste Projekt sei ein durchgehender Küstenweg.

Bild nicht mehr verfügbar.

"Keine Etappe ist wie die andere", schwärmen unterwegs zwei Wanderer aus Leuwen in Belgien auf dem Caminho Histórico von São Luís nach Odemira. Der Wechsel von Korkeichen und Felsen gefalle ihnen, und alles hier wirke natürlich, noch unverdorben. Sie kommen dabei auch am Haus von Senhor André vorbei, der den Wanderern ein freundliches "Olá!" zuruft. Auf seinem Hof kläffen Hunde, gackern Hühner, schnattern Enten. Auf den Bäumen hängen Feigen, Quitten, Pfirsiche und Äpfel, ein kleines Paradies, ein einfaches. "Wir freuen uns immer, wenn Wanderer vorbeikommen", sagt der 81-jährige Bauer. Die 75 Jahre alte Dona Eva bietet ihnen einen Gartensessel zum Ausruhen an. Doch die Wanderer müssen weiter.

Keine Reise hat ein Ende

Die letzte Etappe führt durch weite Olivenhaine und Korkeichenwälder, die Schutz vor der Sonne bieten, die auch im Spätherbst noch sehr kräftig sein kann. Das nördliche Ziel der Rota Vicentina kommt in den Blick, die mittelalterliche Burg von Santiago do Cacém, rund 100 Kilometer südlich von Lissabon. Die ehemalige Templerburg besetzt die gesamte Anhöhe, die es noch zu ersteigen gilt. Dann ist man angekommen.

Auf den Stufen zur kleinen Kapelle, fällt einem ein Satz des Literaten José Saramago ein: "Überlass deine Blumen jemandem, der damit umzugehen weiß, und geh los. Oder geh weiter. Denn keine Reise hat ein Ende." (Beate Schümann,