Fragt danach, wie Netzwerke der Information Subjektivität produzieren – und politische Sphären beeinflussen: Mette Ingvartsen.


Foto: Danny Willems

STANDARD: Sie haben lange über erweiterte Choreografie gearbeitet. Warum taucht in Ihrem neuen Zyklus "The Red Pieces" Sex als Motiv auf?

Ingvartsen: Das sieht nur so aus wie ein großer Sprung – vom Nichthumanen zu Nacktheit und Sexualität. Seit fünf Jahren beschäftigt mich die Frage nach der Choreografie außerhalb des Körpers oder zwischen ihm und seinen Umgebungen. In diesem Sinn ist 69 positions, das erste der Red Pieces, ein Stück darüber, wie Sprache den Körper in einen imaginären, virtuellen Raum hinein erweitert.

STANDARD: Was heißt das konkret?

Ingvartsen: 69 positions hat drei Teile. Im ersten geht es um Verbindungen zu den 1960er-Jahren. Dafür habe ich Performances studiert, die damals mit der sexuellen Befreiung, der Antikriegsbewegung und den antikapitalistischen Strömungen verbunden waren. Ich wollte den Zeitgeist verstehen, die Utopie der Sexual Liberation. Warum bestimmte Fragen bis heute relevant sind und welche neu dazugekommen sind.

STANDARD: Auch in Bezug auf Sie selbst?

Ingvartsen: Im zweiten Teil spreche ich über drei meiner frühen Arbeiten – manual focus, 50/50 und to come. Ich versuche auch da eine Reaktualisierung mit dem Publikum. 69 positions ist eine geführte Tour. Ich interagiere mit dem Publikum. Im dritten Teil geht es um zeitgenössische sexuelle Praktiken, in die Nichtmenschliches involviert ist.

STANDARD: Mit sexuell aktiven Robotern bei Chris Cunninghams Björk-Video?

Ingvartsen: Nein. Eher zum Beispiel, wie Testosteron dazu benutzt wird, den menschlichen Körper und sexuelle Wünsche zu modifizieren. Im Sinn von Beatriz Preciado, heute Paul B. Preciado ("Testo Junkie", Anm.), die analysiert, wie die pharmazeutische Industrie spezifische Auffassungen von Begehren und Sexualität verbreitet, die sogar Regierungen beeinflussen. Das ist sehr interessant, auch im Zusammenhang mit, wie sie sagt, einer "Pornografisierung" von Arbeit.

STANDARD: Auch im Kulturbereich?

Ingvartsen: Preciado zufolge ist Pornografie ein ganzes Paradigma der kulturellen Industrie geworden, die Kreisläufe von Reizen schafft. Was wir in allen Bereichen sehen, in denen unsere Sinne, Affekte und Wünsche stimuliert und dabei kontrolliert und manipuliert werden: Bei Videospielen werden Kinder wie besessen von den Affekten, die diese Spiele produzieren. Und bei der Pornografie, die ein ständiges "Kommen" forciert. Dazu kommen Fragen danach, was Privatheit und Öffentlichkeit ist.

STANDARD: Auch bei den sozialen Medien?

Ingvartsen: Ja, diese Kanäle der individualistischen Selbstentblößung, in denen man ununterbrochen performen muss. Was macht das mit unserem Gemeinschaftsein? Damit hat 7 pleasures zu tun: dem Zusammensein, dem Sozialen von heute. Und damit, wie die Selbstentblößung aufgelöst werden kann. Ich formuliere nicht so sehr eine direkte Kritik zum Beispiel an Facebook, sondern Fragen danach, wie diese Netzwerke der Information Subjektivität produzieren. Und wie das die politische Sphäre beeinflusst.

STANDARD: Wird nicht auch im Tanz zunehmend mit Entblößung spekuliert?

Ingvartsen: Ja. Ich problematisiere auch entsprechende Erwartungen des Publikums: Genuss als Ort von Macht, Kontrolle, Manipulation.

STANDARD: Da geht es doch schnell auf die Ebene der Werbung?

Ingvartsen: Das Theater steht nicht außerhalb der kommerziellen Welt. Was mir passiert ist: Im Sommer hat ein Brüsseler Theater eine Aussendung verschickt, mit Hinweis darauf, wie man die Hitzewelle übersteht: "Mette Ingvartsens Strategie folgen und weniger anziehen." Darunter ein Bild zu 7 pleasures. Ich war wirklich wütend. Aber das macht es für mich umso angemessener, andere Bilder von nackten Körpern zu zeigen. Ich bin nicht daran interessiert, prüde zu sagen, das und jenes sollte nicht sein. Sondern daran, wie sehr dieses Begehren voll von Mechanismen ist. Und ich führe bestimmte Dinge auch gern in ihre Extreme.

STANDARD: Sie werden zusammen mit Boris Charmatz mit Chris Dercon an der Berliner Volksbühne kooperieren?

Ingvartsen: Ja, wir wurden gefragt, ob wir uns ab 2017, also in zwei Jahren, einbringen können und unsere Arbeit zeigen, aber zuvor auch als ein Teil des Teams darüber nachdenken, was die neue Volksbühne sein wird. Sehr aufregend! (Helmut Ploebst, 28.10.2015)