Der britische Guardian titelte "Is Leipzig the new Berlin?". Kurz danach wiederholte die New York Times die Frage: "New Berlin or not?" Englischsprachige Medien behandeln Leipzig gerne als Geheimtipp – allen ist dabei gemeinsam: der nostalgische Vergleich mit dem Berlin der 1990er-Jahre und das Schlagwort "Hypezig". Dessen Erfinder, der Poetry-Slammer André Herrmann, verabschiedete sich zwar mittlerweile aus Leipzig in Richtung Brüssel, aber sein ursprünglich kritisch gedachter Begriff zieht weiter Kreise. Nun wirbt auch das offizielle Stadtmarketing damit.

Das begrünte Dach einer Fabrikshalle in der ehemaligen Baumwollspinnerei, dem Zentrum eines Hypes um Leipzig als angebliche Szenemetropole.
Foto: Bertram Schulze

Das Epizentrum des vermuteten Hypes befindet sich in der Spinnerei, einem Werksgelände im Leipziger Westen. "Das Areal legte bereits zwei Raketenstarts hin", erzählt der bildende Künstler Georg Lisek einer Gruppe von Architektinnen und Architekten. Die versammeln sich gerade im Untergeschoß eines der 20 mehrgeschoßigen Backsteinhäuser zu einer Führung. Dabei erfahren sie, dass sich das Gelände ab 1884 zur größten Baumwollspinnerei auf europäischem Festland entwickelte. Auch der volkseigene Betrieb zu DDR-Zeiten produzierte in den Hallen Dederon, die Nylon-Variante für den Arbeiter- und Bauernstaat.

Ein Architekt mit dem Lockenkopf eines Daniel Cohn-Bendit greift sich im Schauraum eines der Faserbündel und bemerkt: "Daraus machten sie Kittelschürzen." Eine Architektin mit schwarzen Ponyfransen wie Friederike Mayröcker will wissen, warum die Fabrik im Zweiten Weltkrieg unbeschädigt blieb. "Auf den Flachdächern wächst bis heute Schnittlauch", weiß Lisek, "deshalb vermuten alle, dass die alliierten Bomber das Gebiet für Wiesen hielten."

Zeitgenössische Kunstgeschichte

Nach der Wende hob das Gelände zum zweiten Mal ab. Die Fabrik wurde geschlossen, und Künstler fanden in den hellen und trockenen Hallen ideale Bedingungen für Ateliers vor. Niemand hatte einen Plan, was in den Gebäuden nun geschehen soll, deshalb waren die Mieten günstig.

Galerie EIGEN+ART, Ausstellung Stella Hamberg: liebe HÖLLE
Foto: Thomas Riese

Als einer der Ersten bezog Neo Rauch sein Atelier, Leute wie Tilo Baumgärtel, Titus Schade und Rosa Loy folgten. Der Rest ist zeitgenössische Kunstgeschichte. Auch wenn sie es selbst ablehnen, vereint sie der Begriff "Neue Leipziger Schule", eine kraftvolle Kombination aus figürlicher Malerei und abstrakten Elementen.

Auf dem Stöckelpflaster zwischen den Hallen beschreibt Georg Lisek der Architektengruppe den Höhepunkt in den Nullerjahren. Die Stellplätze für Privatjets des Leipziger Flughafens seien ausgebucht gewesen, ständig landeten Hubschrauber in der Nähe der Spinnerei, denn die betuchten Kunstkäufer konnten nicht genug von den Bildern bekommen. Höchstpreise wurden gehandelt, russische Einkäufer sollen ganze Jahrgänge telefonisch geordert haben, Preis egal. Aktuell habe sich der Kunstmarkt auf hohem Niveau eingependelt, die Hysterie sei draußen.

Ein Blick auf das Gelände der Spinnerei
Foto: Thomas Riese

"Neo Rauch fährt heute noch mit dem Fahrrad in sein Atelier", sagt Lisek. Manchmal habe er auch seinen Mops dabei. Dann ist zu hoffen, dass er nicht in die unbenutzten Gleise gerät, die sich durch die Anlage ziehen und an den alten Industriestandort erinnern. "Wo ist Neo Rauchs Atelier?", fragt eine der Architektinnen. "Das verraten wir bei keiner Führung", sagt Lisek, "denn Neo Rauch schätzt die Ruhe."

Zur raschen Ablenkung führt er die Gruppe in eine Galerie. Davon befinden sich mehrere neben den Ateliers auf dem Gelände, sowie auch Werkstätten und Druckereien. Schmuck- und Modemacher arbeiten hier, ein Geschäft für Künstlerbedarf gibt es und eine Nebenspielstätte des Schauspiel Leipzig. Die Aura der ehemaligen Fabrik bleibt aber erhalten, gerade wenn an einer rostigen Lastenwaage die Pflanzen hinaufwuchern. Vorbei am 50 Meter hohen Schornstein, den Angela Merkel zum 125. Geburtstag der Spinnerei vor sechs Jahren symbolisch befeuern durfte, führt Lisek die Gruppe nun zu einem besonderen Juwel, einem kleinen Programmkino.

Großes Kino für Tapeten-Liebhaber

Das Luru-Kino im Souterrain von Halle 18 umfasst 60 Sitzplätze. Bereits im Empfangsraum mit Wohnzimmerflair fällt die Linolschnitttapete in Blau, Rot und Grün auf. Entworfen hat sie der Künstler Christoph Ruckhäberle, der zusammen mit Michael Ludwig (das "Lu" im Namen) das Luru betreibt. "Wir sind wahrscheinlich das einzige Kino der Welt, in dem Tapete und Getränke aufeinander abgestimmt sind", sagt Ludwig. Auch die Etiketten der g'spritzten Biofruchtsäfte gestaltete Ruckhäberle, sie gelten bereits als Sammlerstücke.

Das Luru-Kino
Foto: Uwe Walter

Journalist Marcus Engert hält allein Ruckhäberles Tapete für ein Argument, das Kino zu besuchen. Der Redaktionsleiter des Leipziger Internetradios detektor.fm, das Hintergrundjournalismus mit alternativer Popmusik mischt, hat seinen Arbeitsplatz ebenfalls im Leipziger Westen, wo sich Hypezig in der Karl-Heine-Straße nahe der Spinnerei besonders spüren lässt. Die Allee reiht Beisln mit Open-Mic-Sessions an sogenannte Spätis, wo man sich außerhalb gesetzlicher Öffnungszeiten mit Getränken eindeckt; oder ein Hot-Dog-Geschäft im ironischen Laura-Ashley-Style an einen Salon für arabische Spezialitäten.

Vor dem Hype stand alles leer, es sei so hässlich gewesen, dass niemand hier wohnen wollte, sagen alteingesessene Leipziger. Heute noch sieht vieles improvisiert aus, für manche entwickelt sich Hypezig zur Parodie. "Angeblich wohnt dort das Urbane, das Trendsetzende – aber wehe, gegenüber ist es abends mal laut", meint Engert – dann würden die Nachbarn schon mal die Polizei wegen Ruhestörung rufen.

Foto: Uwe Walter

Die hat in der Leipziger Innenstadt schon genug zu tun. Dort spielt sich eine sächsische Spezialität ab, die neben Hypezig ebenfalls international Beachtung findet: Immer montags veranstaltet der fremdenfeindliche Pegida-Klon Legida sogenannte Spaziergänge. Der Start liegt am Richard-Wagner-Platz zwischen "Pusteblume" und "Blechbüchse". So nennen die Leipziger den Springbrunnen und die fensterlose Fassade des ehemaligen Warenhauses Konsument.

Verkehrsbehinderung als Routine

Hier wiederholt sich die Geschichte als Farce, wenn eine xenophobe Gruppe "Wir sind das Volk" skandiert, liegt das Copyright doch bei der Friedlichen Revolution, die 1989 ebenfalls hier vorbeizog. Anfangs unterschätzten die Leipziger Legida. "Viele dachten, die laufen jetzt ein paarmal, und dann hat sich das", sagt Marcus Engert. Heute seien alle aufgerüttelter. Interessant sei aber, wie sich die Stadt auf die wöchentliche Behinderung des Verkehrs und des öffentlichen Lebens im Zentrum eingestellt hat. Das sei fast schon routiniert.

Den Richard-Wagner-Platz schildern die Gegenspieler von Legida – ebenfalls immer montags – nunmehr als "Refugees Welcome"-Platz aus. So ein Banner hing auch lange Zeit in der Spinnerei, mitten in Hypezig. (Peter Fuchs, 31.10.2015)