Caterina Sansone und Alessandro Tota:
"Palatschinken – Die Geschichte eines Exils"

Reprodukt 2015
192 Seiten, 24,70 Euro

Reprodukt

Familienfoto vor dem Eingang der Baracke in dem Flüchtlingslager in Neapel, entstanden 1954. Links Caterina Sansones Mutter Elena, in der Mitte Elenas Schwester mit ihrem frisch vermählten Gatten, rechts eine Cousine.

Reprodukt

Geschichten über Flucht und Migration, sie ploppen jetzt wieder an die Oberfläche, als hätten sie nur darauf gewartet, dass sich das Phänomen in all seiner Dringlichkeit wieder einmal direkt vor unseren Augen vergegenwärtigt. Aber ja: Es sind genau jene Grenzüberschreiter, die einen jeden gestandenen Familienstammbaum verfestigen, die als Augenöffner dienen, um den Blick vom Persönlichen aufs Allgemeine und wieder zurück richten zu können.

Eine solche Geschichte von Flucht und Exil hat ein in Frankreich lebendes italienisches Paar in dem Comic-Band "Palatschinken", kürzlich auf Deutsch bei Reprodukt erschienen, festgehalten. Es beschreibt eine der unbekannteren Migrationswellen – nämlich jene der italienischstämmigen Bevölkerung aus Rijeka und Istrien nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals wurde die Region nach 21-jähriger Zugehörigkeit zu Italien an die Volksrepublik Jugoslawien abgetreten.

Die Hafenstadt an der Kvarner Bucht war seit jeher umkämpft: Rijeka wanderte vom Königreich Italien zu den Habsburgern, wurde unter der österreichisch-ungarischen Monarchie zu einem der wichtigsten Umschlagplätze Europas und nach dem Ersten Weltkrieg von italienischen Freischärlern besetzt, die die kroatische Bevölkerung drangsalierten. Auch im Zweiten Weltkrieg war die Stadt unter italienischer Besatzung. 1947 wurde die Stadt endgültig jugoslawisch – und hunderttausende Italiener aus Rijeka ausgewiesen, während viele der einst vertriebenen Kroaten wieder zurückkehrten.

(Zum Vergrößern bitte klicken.)
Reprodukt

Eine hübsche Keksdose voller verblichener Familienfotos, solche mit gezinkten Rändern und fesch herausgeputzten und gekampelten Leuten: Das ist der Ausgangspunkt für Caterina Sansone, um die Migrationsgeschichte ihrer Mutter Elena zu rekonstruieren. Elena war als Kind 1950 mit ihren Eltern – die Mutter Kroatin, der Vater Italiener – aus Rijeka, auf italienisch Fiume, vor Hunger und Repressalien geflohen. Zwölf Jahre verbrachten sie in Baracken in Flüchtlingslagern, bevor Elena in Italien Fuß fassen konnte. Ihre Tochter Caterina Sansone lebt heute als Fotografin in Paris. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten, dem Comiczeichner Alessandro Tota, verfolgte sie anhand der Fotos die Route ihrer Mutter in umgekehrter Reihenfolge. Entstanden ist daraus eine Comic-Dokumentation der Reise, immer wieder unterbrochen von Fotostrecken.

STANDARD: In dem Comic "Palatschinken" zeichnen Sie die Reise zu den Stationen der Flucht Ihrer Mutter Elena nach. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, diese Spurensuche in einer Graphic Novel zu verarbeiten?

Sansone: Die Idee war zuerst gar nicht, eine Graphic Novel zu machen, sondern eine Fotoserie. Ausgehend von der Fotobox wollte ich die Geschichte meiner Mutter erzählen und ich wollte Aufnahmen machen von den Orten, an denen die alten Fotos gemacht wurden, um zu sehen, ob es irgendwelche Spuren aus der Vergangenheit gibt. Als ich an dem Projekt zu arbeiten begann, fand ich, dass ich eine Art "Voice-over" brauchte, das die Geschichte meiner Mutter und die meiner Forschung durch Zeit und Raum erzählen konnte. Also bat ich Alessandro mit mir mitzukommen, um eine Art Reisetagebuch zu machen. Als wir zurückkamen, versuchten wir dann ein Buch zu machen aus dem ganzen verschiedenen Material, das wir hatten.

(Bitte klicken, um die ganze Seite zu sehen.)
Reprodukt

STANDARD: Die Vertreibung von Italienern aus Rijeka ist nicht so bekannt – warum hat sich die Familie Ihrer Mutter für die Flucht entschieden?

Sansone: Für die Familie meiner Mutter waren die Gründe hauptsächlich wirtschaftlicher Natur: Mein Großvater tat sich schwer, Arbeit zu finden, und es war ein Problem, gesundes Essen wie Früchte und Fleisch zu bekommen. Meine Mutter war damals acht Jahre alt und begann aufgrund der Unterernährung krank zu werden, also haben sich meine Großeltern entschlossen, nach Italien zu gehen, wo bereits ein paar Verwandte waren. Dazu kommt, dass der italienische Faschismus nicht gerade zimperlich mit der kroatischen Bevölkerung umgegangen war, also hatten nach dem Zweiten Weltkrieg die meisten Italiener in Rijeka – auch die Sozialisten, nicht nur die Faschisten – Angst vor Racheaktionen.

STANDARD: Es gibt viele autobiografische Graphic Novels bzw. solche, die sich mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigen – warum eignet sich ausgerechnet die Comic-Form so gut für diese Art der Erzählung?

Tota: Comics arbeiten mit Bildern, und das ist großartig, um die Vergangenheit zu zeigen, um den Leser in eine Welt zu begleiten, die verschwunden ist. Ich kann dem Leser zeigen, wie eine Baracke in einem Flüchtlingslager ausgesehen hat, wie die Leute sich kleideten, alles. In einem Film würde das Millionen Dollar kosten – ich brauche nur Zeit für die Recherchen und um die Seiten zu zeichnen. Comics sind ein starkes Medium.

STANDARD: Ein wesentlicher Teil der Geschichte sind Fotos, die zeigen, wie es an den Orten, wo die alten Aufnahmen gemacht wurden, heute aussieht. Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen, wie haben Sie all diese Schauplätze, die einfach Hintergrund für Porträts oder Familienfotos waren, wieder gefunden?

Sansone: Zuerst fragten wir meine Mutter (sie starb 2013 nach Fertigstellung der italienischen Erstausgabe, Anm.), ob sie sich erinnert, wo die Fotos gemacht wurden. Dann reisten wir mit den alten Fotos im Gepäck herum und versuchten, die Stellen zu finden. Wenn wir uns nicht sicher waren, fragten wir uns durch und fanden gewöhnlich auch jemanden, der uns den richtigen Ort zeigte. In Rijeka baten wir die dortige italienische Community um Hilfe, weil wir alle Adressen auf Italienisch hatten und die Straßennamen sich natürlich geändert hatten. Die Leute haben uns sehr geholfen und erkannten viele der Gebäude auf den alten Bildern.

(Bitte klicken, um die ganze Seite zu sehen.)
Reprodukt

STANDARD: Sie beschreiben die Situation der Flüchtlinge in den Baracken in Neapel als sehr isoliert – es sei wichtig gewesen, die eigenen Traditionen aufrechtzuerhalten. Genau das wird heute sehr kritisch gesehen. Was hat sich für heutige Flüchtlinge geändert im Vergleich zu früher?

Sansone: Wir können die Fragen nicht wirklich beantworten. Wir glauben aber, dass eine Geschichte wie diese uns Europäern helfen könnte, uns daran zu erinnern, dass einmal wir die Flüchtlinge waren, und uns somit mehr Empathie gegenüber diesen Menschen auf der Suche nach einer sicheren Heimat geben könnte.

STANDARD: Sie schreiben gegen Ende des Buches, dass Sie durch die Reise auf eine Art Erkenntnis gehofft haben, die aber nicht kam. Gibt es irgendetwas, das Sie herausgefunden haben, was Ihnen vorher nicht klar war?

Sansone: Ich fand eine Menge heraus über meine Mutter und meine Familie. Ich habe meine Großeltern nie getroffen, und nachdem ich das Buch gemacht habe, habe ich das Gefühl, sie ein wenig zu kennen. Die berührendsten Momente waren für uns, als wir im Park Capodimonte in Neapel waren, wo sich früher das Flüchtlingslager befunden hatte. Im Archiv des Museums fanden wir viele Dokumente und Fotos aus dem Lager. Es war außerdem sehr interessant, in Rijeka die Geschichten der Italiener zu hören, die in der Stadt geblieben waren. Sie behielten ihre Heimat, konnten aber nicht immer ihre Traditionen beibehalten. Das gab uns einen anderen Blickwinkel auf die ganze Geschichte.

(Bitte klicken, um die ganze Seite zu sehen.)
Reprodukt

STANDARD: Das Buch ist inspiriert vom Duft der Palatschinken, die Sie in Ihrer Kindheit zu essen bekamen. Palatschinken sind als Überbleibsel der k. u. k. Monarchie quasi ein österreichisches Nationalgericht. Haben Sie bei Ihrem Besuch in Wien anlässlich der Erich-Fried-Tage im Oktober welche probiert? Bleibt Essen das völkerverbindende Element schlechthin?

Sansone: Leider haben wir keine Palatschinken in Wien gegessen. Ich bin nicht sicher, ob Essen wirklich ein Element des gegenseitigen kulturellen Verständnisses ist – es kann im Gegenteil ein Element des Missverständnisses sein. So wie die Generation meiner Großeltern in Neapel als "Fremde" angesehen wurde, einfach, weil sie einen anderen Geschmack und andere Ernährungsgewohnheiten hatten. Aber ja, in diesem Fall ist das Palatschinkenrezept Teil des Familienerbes und verbindet mich so mit meinen osteuropäischen Wurzeln! (Karin Krichmayr, 5.11.2015)