Bild nicht mehr verfügbar.

In Vietnam wird ein Straßenbild angestrebt, in dem das Essen und der Essensverkauf zunehmend von der Straße verschwinden und in Indoor-Restaurants verlagert werden.

Foto: Reuters / Nguyen Huy Kham

Ho-Chi-Minh-Stadt/Wien – Weit reisen heißt heute nicht mehr, in ein Meer aus völlig fremden Speisen und Geschmäckern einzutauchen. Entweder sind viele bereits aus dem internationalisierten Restaurantangebot der eigenen Stadt vertraut, oder man setzt beim Essen in der Fremde auf die Fastfoodkette seines Vertrauens, die ihr Angebot in wohlbekanntem Ambiente und Aromen feilbietet. Eine Globalisierung der Esskulturen ist offenkundig, weniger klar ist, was diese Annäherungen bedeuten.

Die Soziologin Judith Ehlert leitet das vom FWF geförderte Projekt "Ein körperpolitischer Ansatz des Essens – Vietnam im Geflecht globaler Transformation". Gemeinsam mit Projektmitarbeiterin Nora Faltmann beschäftigt sie sich im Bereich Entwicklungssoziologie am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien und in Vietnam mit der Frage: Wie lassen sich soziale Statuszuschreibungen, gesellschaftliche Teilhabe oder Abgrenzung und veränderte Wertvorstellungen durch Essen und Körpernormen beobachten? "Essen dient uns als ein Vergrößerungsglas, als ein Zugang zu den Veränderungen gesellschaftlicher Transformationsprozesse", erklärt Ehlert, die im Oktober nach einer ersten Feldforschungsphase aus Ho-Chi-Minh-Stadt zurückgekehrt ist. Der Forschungsfokus liegt auf dem urbanen Raum, im Laufe des Projektes wird auch in Hanoi im Norden geforscht, damit ein Nord-Süd-Vergleich vorgenommen werden kann.

Mangel trotz Überflusses

In Vietnam sind einschneidende gesellschaftliche Wandlungsprozesse im Gange, denen zahlreiche Umbrüche vorangingen. Nach der Teilung des Landes in Norden und Süden 1954, dem Amerikanischen Krieg zwischen 1964 und 1975 und der Wiedervereinigung 1975/76 folgte Ende der 1980er-Jahre das Ende der Isolation vom Westen durch das US-Embargo. "Seit der sukzessiven Marktöffnung Vietnams durch die Wirtschaftsliberalisierung und dem WTO-Beitritt haben die globale Nahrungsmittelindustrie und der gastronomische Sektor den vietnamesischen Markt für sich entdeckt", erklärt Ehlert.

Das Grundnahrungsmittel Reis wird heute weniger gegessen, dafür mehr Fleisch, Fett, Milchprodukte, Obst und Gemüse, sagt Nora Faltmann, die ihm Rahmen ihrer Dissertation an dem Projekt arbeitet. Gleichzeitig sei aufgrund der Ankunft von Supermärkten in Vietnam der Anteil von Convenienceprodukten gestiegen. Ehlert und Faltmann beobachten die Transformationsprozesse in den vier Bereichen Nahrungsmittelangebot, mediale Einflüsse auf die Esskultur, Essen als soziale Beziehung und Essen und seine Risiken. Letzteres stellt in westlichen Industrieländern längst das Gros des Ernährungsdiskurses: Zu viel vom Falschen, zu wenig vom Richtigen, ergo: Übergewicht und Mangelernährung trotz Überflusses. Auch diese Seite des sogenannten "double burden of malnutrition" lernt Vietnam nun kennen. Die andere sind laut Zahlen der WHO 104 Millionen unterernährte Kinder. Diese enorme Zahl steht 1,5 Milliarden übergewichtigen Menschen gegenüber, 500 Millionen davon sind adipös.

In Vietnam hat vor den genannten Umwälzungen vor allem der Mangel an Lebensmitteln den Alltag bestimmt. "Heute geht es vielmehr um die Qualität und das Ausprobieren von Lebensmitteln sowie generell um den Umgang mit dem Nahrungsmittelüberfluss", sagt Ehlert. Ernährungsbedingte Krankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Probleme und Adipositas nehmen zu. Auch das Thema Nahrungsmittelsicherheit, nicht mehr zu wissen, was man zu sich nimmt, dominiert heute die vietnamesische Tagespresse.

Ehlert sieht hier einen klaren Zusammenhang mit der Modernisierung des Agrar- und Nahrungsmittelsystems, die eine zunehmende Distanz zwischen Produzierenden und Konsumierenden schafft. Diese Distanz führe zu einem Gefühl von Unwissenheit, wo Lebensmittel herkommen oder wie sie verarbeitet wurden. Der Anspruch, zu wissen, was genau auf dem Teller ist und was das mit dem eigenen Körper macht, wird auch in Vietnam zunehmend Mittel zur sozialen Unterscheidung. "Es gibt bislang eine sehr kleine Nische an international biozertifizierten Lebensmitteln, eine Sparte, die verhältnismäßig teuer und damit nur einer bestimmten Schicht zugänglich ist", so Ehlert über die beginnende Bio-Neigung. Mit der würden Teile der Mittelschicht ihrer materiellen und symbolischen Fähigkeit der Partizipation am globalen Gesundheitsbewusstsein und der individualisierten Sorge um den eigenen Körper Ausdruck verleihen.

Wenn Bio zum Problem wird

Eine Sorge, die im sozialistischen Einparteienstaat relativ neu ist. "Egalitäre Ansprüche stehen in interessant widersprüchlicher Weise nun neben der neoliberalen Aufforderung, sich als Konsumentin oder Konsument zu individualisieren", fasst Ehlert die Situation, die nun mehr und mehr Distinktionsmöglichkeiten biete.

Der Bio-Konsum hat vielleicht für die Gesundheit des Einzelnen seinen Nutzen, doch er hat Schattenseiten, die laut Faltmann stärker thematisiert werden sollten. "Wenn plötzlich gesundheitsorientierte Menschen aus aller Welt Chiasamen, Gojibeeren oder Quinoa essen möchten, hat das Konsequenzen für die Preise und kann Systeme verwundbar machen", sagt sie. Wenn durch einen Trend viele Landwirte und Landwirtinnen das Gleiche anbauen, schaffe das Abhängigkeit von Weltmarktpreisen und deren Schwankungen. Trotz eines globalen Agrar- und Lebensmittelsystems, das das Angebot global verfügbar macht und standardisiert, wird es weiterhin lokale Ausprägungen geben. Faltmann sieht traditionelle vietnamesische Gerichte durch die Ankunft neuer Lebensmittel und Trends nicht im Verschwinden, vielmehr würden sie die Esskultur ergänzen.

Die Forscherinnen interessiert daher vor allem, wie das globale Angebot an Essen und Diskursen lokal eingebettet, angepasst, umgestaltet oder auch zurückgewiesen wird. Sofern diese Möglichkeit überhaupt bestehen bleibt. Denn die vielen kleinen Garküchen oder mobilen Essens- und Kaffeestände sollen laut dem vietnamesischen Regierungsprogramm tatsächlich aussterben. "Argumentiert wird mit Nahrungsmittelsicherheit und damit, dass Indoor-Restaurants Ausdruck einer modernen kulinarischen Kultur und eines zivilisierten Stadtbildes seien", sagt Ehlert über die Motive der Regierung.

Wenngleich Fastfoodketten in Vietnam längst und in großer Zahl angekommen sind, so werden sie doch anders als etwa in Europa genutzt. Der vertraute Geschmack für den Weltreisenden, der sich trotz tausender Kilometer Entfernung kulinarisch nicht aus Europa wegbewegen will und sich mit Pizza oder Starbucks-Kaffee durchhantelt, ist für die Menschen in Vietnam ebenso wenig relevant wie die von Fastfoodketten angepriesene Schnelligkeit. Ganz im Gegenteil, fand Ehlert heraus. Der Besuch solcher Lokalitäten werde als Ort der sozialen Aufwertung genutzt, um zu sehen und gesehen zu werden. Und das braucht mitunter mehr Zeit, als der Genuss eines Fastfood-Menüs dauert. (Beate Hausbichler, 4.11.2015)