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Proteste gegen das Treffen.

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Ma (li.), Xi (re.).

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Peking/Taipeh/Singapur – Wie reden Chinas Staatschef Xi Jinping und Taiwans Präsident Ma Ying-jeou einander an, wenn sie sich in Singapur zur ersten Zusammenkunft amtierender politischer Führer der seit 1949 geteilten Nation treffen? Die knifflige Frage für den kommunistischen Führer Xi, der Taiwan nicht als Staat anerkennt, sondern als abtrünnige Provinz ansieht, und für Ma, dessen Nationalpartei Kuomintang die Volksrepublik jahrzehntelang einen Banditenstaat nannte, konnte im Vorfeld im gegenseitigen Einvernehmen gelöst werden Beide wollen einander bei ihrer Begegnung am Samstag einfach mit "Xiansheng", also mit "Herr Xi" aus Peking und "Herr Ma" aus Taiwan, anreden.

1949, nach vier Jahren Bürgerkrieg, hatten die siegreichen Truppen Mao Tsetungs die regierende KMT-Nationalregierung unter Tschiang Kai-shek aus China nach Taiwan vertrieben. Dort errichtete Tschiang die Republik China, während Mao in Peking die Volksrepublik China ausrief. Für beide Kontrahenten, die sich seit 66 Jahren ohne Friedensvertrag in einem formal unbeendeten Kriegszustand befinden, ist allein das Treffen ihrer höchsten Führer schon ein Fortschritt. Vor allem, wenn sie einander auch noch zivilisiert anreden. Die "South China Morning Post" titelte: "Vom Bürgerkrieg zur bürgerlichen Anrede".

Lob für Pragmatismus

Der Leiter des Pekinger Staatsrats-Büro für Taiwan-Angelegenheiten, Zhang Zhijun lobte das "pragmatische Arrangement" der gegenseitigen Anrede. Es stimme nicht nur mit "dem Ein-China-Prinzip" überein, sondern zeige, wie "Differenzen ausgeklammert werden, während sich beide mit Respekt begegnen", sagte er Xinhua. Beide Politiker wollten über weitere Wege zur Vertiefung ihrer Zusammenarbeit sprechen. Danach wollten sie zusammen zu Abend essen. Zhang nannte ihre Zusammenkunft "bedeutsam und positiv "

Die angekündigte Begegnung überraschte alle Beobachter. Chinas Staatsfernsehen machte sie am Mittwoch zur Hauptnachricht ihrer Abendsendungen. Die taiwanesische Regierung gab das Treffen als erste bekannt. Absicht sei, zur Stabilisierung der beiderseitigen Beziehungen und damit auch zu mehr Frieden und Sicherheit in der Taiwanstraße beizutragen. Beide Präsidenten würden aber keine gemeinsamen Erklärungen abgeben, oder Verträge unterzeichnen.

Dem Treffen in Singapur kommt nicht nur wegen seiner Erstmaligkeit hohe symbolische Bedeutung zu. Der Zeitpunkt ist heikel, nur drei Monate vor dem 16. Jänner, an dem auf Taiwan gewählt wird. Alle Umfragen deuten auf eine Wachablösung der herrschenden KMT-Nationalpartei zugunsten der für Unabhängigkeit von China eintretenden Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) unter Parteiführerin Tsai Ing-wen. Einer der Gründe liegt neben der schwächelnden Wirtschaft auch in der beim Wahlvolk negativ angesehenen prochinesischen Politik der Nationalpartei.

Anfangs Entspannung

Nachdem Ma 2008 zum Präsidenten Taiwans gewählt wurde, hatten sich zuerst die wirtschaftlichen Beziehungen zu China entspannt und verbessert, besuchten sich Touristen millionenfach und gegenseitig. Sein Hoch hielt nicht lange an, Ma verlor bald an Ansehen. Gerade unter jungen Taiwanesen sind antichinesische Ressentiments verbreitet. Bilder ihrer wochenlangen Massenproteste gegen von Ma unterstützte Wirtschaftspakte mit China gingen vergangenes Jahr um die Welt. Die Studenten warfen ihm vor, für kurzfristige wirtschaftliche Vorteile und bessere Beziehungen mit Festlandchina, die Abhängigkeit von Peking gefährlich zu erhöhen. Bei der Lokalwahl im vergangenen Jahr wurde die regierende Kuomintang von den Wählern abgestraft.

Unklar ist, warum Ma und auch Xi ihr Treffen in Singapur zu diesem Zeitpunkt vereinbarten und was sie damit bezwecken. Ma hat inzwischen angekündigt, am Donnerstag auf einer Pressekonferenz Stellung zu nehmen.

Das Misstrauen sitzt tief, Taiwans Wähler haben in den vergangenen Jahren jede versuchte Einflussnahme Chinas auf die Wahlen abgewehrt. Sie wählten statt der KMT erst recht die Oppositionspartei. Selbst als Pekings Militär bei der Präsidentschaftswahl 1996 Raketen in das Meer vor der Inselrepublik schoss – quasi als Warnschüsse vor den Bug –, gewann der bei Pekings Parteiführung verhasste und für Unabhängigkeit stehende Präsidentschaftskandidat Lee Teng-hui die Wahl mit 54 Prozent haushoch.

Peking hat vergangene Woche offiziell versichert, sich nicht in die kommenden Wahlen einzumischen oder Kandidaten öffentlich zu favorisieren. Doch viele öffentliche Stimmen befürchten, dass mit dem Treffen Xi und Ma Druck ausgeübt werden soll. Sie kündigten Protestdemonstrationen an. Das Verhältnis zu China wird zum Wahlkampfthema in Taiwan.

Spekulationen

Innerhalb Chinas spekulierten Taiwan-Forscher, ob sich Ma, dessen Präsidentschaft 2016 endet, einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern möchte. Schwieriger ist das Interesse von Xi an dem Treffen zu deuten. Die Volksrepublik betrachtet Taiwan als abtrünnige Provinz, mit der sie sich über kurz oder lang, in friedlicher Weise oder mit kriegerischen Mitteln, wiedervereinigen will. Sie ist tunlichst darauf bedacht, politische Repräsentanten Taiwans nicht aufzuwerten.

Die Einladung an Ma ging offenbar von Xi aus, der nach Singapur auf Staatsbesuch kommt. Seit seinem Amtsantritt Ende 2012 hat Xi mehrfach angekündigt, die ungelöste Taiwan-Frage auf seine Agenda setzen zu wollen. Singapur scheint ihm eine ideale Plattform zu bieten. 1993 verständigten sich dort Unterhändler aus China und Taiwan erstmals auf eine vage formulierte Kompromissformel zur gemeinsamen China-Politik und möglichen Wiedervereinigung. Danach erkennen sie das "eine China" an, dem ihre beiden Seiten als zwei Teile angehören. Der Begriff, was "ein China" meint, wurde mit Absicht offen gelassen.

Xis Verstoß würde zur neuen Flexibilität chinesischer Diplomatie passen. Peking hat mit seinen militärischen Muskelspielen im Streit mit Japan im Ostchinesischen Meer, mit seiner Aufrüstung, Armeeparade und künstlichem Inselbau im Südchinesischen Meer zu viele Nachbarn vor den Kopf gestoßen. Nun ist es mit beweglicher Außenpolitik auf Schadensbegrenzung aus. Erst am Montag hat sich Chinas Premier Li Keqiang in Seoul mit Japans Regierungschef Shinzo Abe bei der Wiederaufnahme des trilateralen Gipfels zwischen China, Japan und Südkorea getroffen. Li sprach von einer neuen Entspannung in den hochbelasteten chinesisch-japanischen Beziehungen. Am Mittwoch beginnt Xi in doppelter Funktion als Staats- und Parteichef seinen Staatsbesuch in Vietnam, mit dem China in heftigem Streit über seine Besitzansprüche im Südchinesischen Meer steht.

Das vorerst auf 20 Minuten angesetzte Treffen in Singapur taut auf höchster politischer Ebene das Eis. Begegnungen von führenden Politikern beider Seiten gibt es seit 2005, als der damalige chinesische Parteichef Hu Jintao den Kuomintang-Führer Lien Chan in Peking traf. Taiwans China-Reisende kamen als Vertreter ihrer Partei, nicht aber wie jetzt Ma als Repräsentanten der Regierung der Inselrepublik.

Von den USA wurde die Ankündigung vorsichtig begrüßt. Mögliche Schritte zur Reduzierung der Spannungen zwischen beiden Seiten seien erfreulich, sagte ein Sprecher des Weißen Hauses. Es müsse abgewartet werden, was bei dem Treffen der Herren Xi und Ma tatsächlich herauskomme. (Johnny Erling aus Peking, 4.11.2015)