Feridun Zaimoglu, "Siebentürmeviertel". EURO 24,99 / 797 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015.

Er liest am 10. 11. um 19 Uhr (Literaturhaus) im Rahmen der Buch Wien.

cover: Kiepenheuer&Witsch

Feridun Zaimoglu dreht den Spieß um. 500 Seiten hatte sein gefeierter Roman Leyla von 2006, in dem er die Geschichte einer jungen Türkin erzählt, die in den 1960er-Jahren von Anatolien nach Deutschland auswandert. Für die Gegenerzählung legt der deutsche Autor mit türkischen Wurzeln noch einmal 300 Seiten drauf. Ein bisschen quälen will Zaimoglu den Leser in seinem neuen Roman Siebentürmeviertel nämlich auch. Katharsis stellt sich am Ende keine ein.

"Sie nennen mich Hitlers Sohn. Flüchtiger Arier. Kind mit Kraft", beginnt der Ich-Erzähler namens Wolf im Prolog. Sie, das sind die Bewohner eines Istanbuler Problemviertels in den 1940er-Jahren: Türken, Griechen, Tschetschenen, Armenier, Juden, Kurden – die Metropole am Bosporus ist ein Schmelztiegel der Kulturen, im Siebentürmeviertel leben sie Tür an Tür. Mitten hinein wirft Zaimoglu Wolf und seinen verwitweten Vater Franz, kaisertreuer Sozialdemokrat, der vor den Nazis in die Fremde flüchtet.

Abdulla Bey, ein Bekannter des Vaters, lässt die Deutschen in sein Haus, gewährt ohne Umschweife Asyl. Die Nachbarn im Viertel beäugen die Fremden zunehmend mit Argwohn. Was wollen sie hier? Warum mussten sie gehen? Verführt der Deutsche unsere Frauen? Vater Franz ergibt sich dem Getuschel und zieht bald weiter. Seinen Sohn lässt er zurück. In der Obhut Abdulla Beys' Familie bewältigt der junge Wolf so manches existenzielle Problem, etwa den Kindbett-Tod seiner Mutter, durch Assimilation.

Er taucht ein in die archaische Welt des Viertels, das an der Schwelle zur Moderne mit widerstreitenden gesellschaftlichen Entwicklungen zu kämpfen hat. Nach und nach akzeptiert er die Spielregeln des mafiösen Mikrokosmos, in dem er und seine Freunde auch Erfahrung mit dem Faustrecht machen. Die Narben, die sich der Heranwachsende holt, kuriert er mit der Vertiefung in einen Gedichtband. Oder in den Armen älterer Frauen. Bayka Hanim nennt er bald Mutter, Abdulla Bey Vater, den leiblichen nur noch Franz.

Von ihm erfährt man in all den Jahren zwischen 1939 und 1949 nur aus Briefen und gelegentlichen Besuchen, bei denen das Vater-Sohn-Gespräch stets scheitert, in Enttäuschung und Streit mündet. "Hüte dich vor diesen finsteren Knechten", warnt der deutschtümelnde Vater unablässig, in dessen Augen sich Wolf zunehmend entfremdet. Doch selbst die österreichische Schule der Stadt, auf die Franz seinen Sohn schickt, vermag ihn nicht umzukrempeln.

Dem ersten Sex und der ersten Liebe hinterherlaufend, wird Wolf immer weiter in die Revierkämpfe seines Ziehvaters hineingezogen und schließlich vor die Wahl gestellt: Bleiben oder gehen? "Das Viertel ist mein Land", sagt er.

Feridun Zaimoglu gibt in Siebentürmeviertel erneut den Randständigen der Gesellschaft eine Stimme. In Verbindung mit den eingewobenen Gedichten, Flüchen und Gebeten entfalten die endlosen Dialoge des Romans eine hypnotisierende, fast spirituelle Wirkung, die dem Leser einiges abverlangen. 99 Kapitel in Anlehnung an die vom Propheten überlieferten "schönen Namen Gottes" verstärken diesen Eindruck. Ein Roman, poetisch wie ein Gebetsbuch, der mehr Fragen aufwirft als beantwortet.

Konsequent aus der Perspektive des Kindes erzählt, ist man für jeden der raren Hinweise auf die historische und politische Einbettung der Geschichte dankbar. Das verleitet zum Befragen der Suchmaschine, führt aber auch den Informationsrückstand der zwischen Gerücht und Glaube Lebenden realistisch vor Augen. Siebentürmeviertel lädt in der Flüchtlingskrise zum Perspektivenwechsel ein, ist aber auch ein großes Buch über Eros und Thanatos. Oder wie Protagonist Wolf sagt: "Große Worte. Große Gefühle. Und am Ende doch nur Gewalt." (Stefan Weiss, Album, 7.11.2015)