Es war eine Österreicherin, die Anfang des 20. Jahrhunderts eine für San Sebastián wegweisende Entscheidung traf: Die Habsburgerin Maria Christina, Frau und früh Witwe des spanischen Königs Alfonso XII., ließ in der nordspanischen Stadt ihre Sommerresidenz errichten. Mit der Regentin hielt der Madrider Adel Einzug. Örtliche Köche, Schneider und Schuster, Fischer, Baumeister und Winzer profitierten von dem kaufkräftigen Publikum.

San Sebastián ist bis heute bekannt für gutes Handwerk, gute Küche und schöne Häuser. Es gibt in Spanien wohl keine elegantere Stadt. Das wissen ihre rund 180.000 Bewohner: Sie feiern das Leben, wann immer sie können, zum Beispiel in Maria Christinas Palacio Miramar. Der macht seinem Namen alle Ehre: Er bietet einen fantastischen Blick über den Golf von Biskaya. Mittlerweile gehört er der Stadt und dient verliebten Paaren für ihre Traumhochzeit.

San Sebastiáns malerische Lage am Golf von Biskaya faszinierte bereits Maria Christina von Österreich, Mata Hari, Leo Trotzki oder Maurice Ravel.
Foto: San Sebastián Turismo & Convention Bureau

Traumhafte Orte gibt es in der Stadt am Meer viele. Ihre weitläufige Wasserfront wird von zwei Buchten und einer Flussmündung gebildet. In einer der Buchten liegt die bewaldete Insel Santa Clara, direkt gegenüber dem vornehmen Paseo de la Concha. Ein Landschaftsmaler hätte es nicht besser hinbekommen.

Vergangenheit verarbeitet

Alles Idylle also. Wären da nicht die 94 Morde, die die baskische Terroristengruppe ETA (Euskadi Ta Askatasuna, Baskenland und Freiheit) in der Stadt begangen hat. Kein anderer Ort hat so sehr unter den Gewalttaten der Separatisten gelitten wie San Sebastián. Mehr als 30 Jahre lang lebten die Bewohner in Anspannung, bis zum Waffenstillstand von 2011. Seitdem verarbeiten sie die Vergangenheit und erobern ihre Zukunft – mit Kultur zum Beispiel.

Ab dem 23. Jänner 2016 will die Stadt der Welt zeigen, dass Theater, Musik und Kunst wirksame Therapien bei der Überwindung von Gewalterfahrung sind. Dann ist San Sebastián Europäische Kulturhauptstadt. Das Programm umfasst mehr als 100 Projekte und fast 500 Einzelaktionen mit einem weit gefassten künstlerischen Begriff. Es geht nicht nur um Ausstellungen, Aufführungen oder Konzerte. San Sebastián nutzt Kultur als Werkzeug zum besseren Zusammenleben.

Foto: San Sebastián Turismo & Convention Bureau

"Diese Stadt brauchte ein gemeinsames Ziel", erinnert sich der ehemalige Bürgermeister Odón Elorza. Der Konflikt brachte nicht nur Blut und Tränen, er spaltete die Basken auch. Denn ohne einen breiten Rückhalt in der Gesellschaft hätten die Terroristen nicht so lange wüten können. Elorza war selbst jahrelang von der ETA bedroht.

Kulturkonzept aus dem Kloster

2007 zog sich Elorza für ein paar Tage in ein Kloster zurück. Dabei kam er auf die Idee mit der Kulturhauptstadt. 2011 erhielt die Stadt von der Europäischen Kommission den Zuschlag, wenige Monate vor der Waffenruhe. Das Konzept ist einfach und zugleich mutig: Die Bürger sind nicht nur Konsumenten, sondern aktive Gestalter, der Prozess soll nach 2016 weitergehen, dabei Demokratie und Frieden fördern.

Inesa Aristimuño wirkt daran mit. Die Soziologin gehört zum Organisationsteam des Kulturhauptstadtprogramms, das 2012 gegründet wurde und bis 2018 bestehen wird. Sie betreut den Themenbereich Frieden, in dem es um künstlerische Auseinandersetzung mit Begriffen wie Menschenrechte, Würde, Integration oder Respekt geht.

Foto: San Sebastián Turismo & Convention Bureau

Für Aristimuño ist die Herangehensweise schwierig, aber wirksam. Seit zwei Jahren bastelt die Stadt am Programm, mit Vereinen, Künstlern und Kollektiven, "die an sich nicht unbedingt miteinander reden würden", wie sie sagt. "Die Vorbereitung ist eine Schule des Friedens", meint die Soziologin, "das kann ganz anstrengend sein."

Vorurteile überwinden

Anschaulich sind drei Programmpunkte: "Theater Forum", erarbeitet nach dem politischen, interaktiven Theater des Brasilianers Augusto Boal aus den 1970er-Jahren. Dabei geht es um Kunst, Selbsterfahrung und gespielte Problemlösung. Seit Monaten touren zwei Darsteller durch die Region und proben mit Zuschauern Konfliktbewältigung im Alltag. Auch das Tanzprojekt "5 days to dance" der Kompagnie De Loopers setzt auf Überwindung von Vorurteilen und Versöhnung. Die Gruppe aus Bremen hat im vergangenen November an einem Gymnasium der Stadt einen Dokumentarfilm darüber gedreht, wie 90 Jugendliche eine Choreografie erarbeiten.

Foto: San Sebastián Turismo & Convention Bureau

Dann ist da noch die Ausstellung "ohne Orte, ohne Zeit": Gezeigt werden Gedichte, Zeichnungen oder Skulpturen von Gefängnisinsassen, Heimbewohnern oder Patienten psychiatrischer Kliniken. Begleitet werden die Werke von Texten, die Sozialarbeiter und Therapeuten erstellen. Sie sollen verdeutlichen, wie Menschen mit Ausgrenzung und der damit oft einhergehenden Persönlichkeitsspaltung umgehen. "Für die meisten ist Kunst der einzige Weg, die eigene Würde zu wahren", sagt Aristimuño.

Einladend ohne Effekthascherei

Für gelernte Touristen wirkt so ein Programm wahrscheinlich nicht besonders attraktiv. Es ist alles andere als effekthascherisch und wendet sich vor allem an die eigene Bevölkerung. Leiter Pablo Berástegui, der mit einem relativ geringen Budget von 48,7 Millionen Euro haushalten muss, ist nicht nur vom gesellschaftlichen, sondern auch vom touristischen Erfolg überzeugt. "Wir bieten Ihnen keine großen Namen", sagt er, "wir laden Sie ein, die Stadt und ihre Menschen kennenzulernen."

Dazu sollte man wissen: San Sebastián hat auch ohne Kulturhauptstadtjahr viel Kunst und Kultur zu bieten: das internationale Filmfest im September und das Jazzfestival im Juli; die Klassikwochen Quincena Musical, die seit 1939 im August und September veranstaltet werden; den "Kursaal", erbaut 1999 von Rafael Moneo, prämiert mit dem Mies van der Rohe Award; das 2011 erweiterte Museo San Telmo für zeitgenössische Kunst und Kulturzentren wie die ehemalige Zigarettenfabrik Tabakalera. Und überall in der Stadt stehen wunderbare Skulpturen, in der Brandung am Fuß des Igeldo-Berges etwa Peine del Viento (Windkamm) des baskischen Bildhauers Eduardo Chillida.

Der alte Gran Kursaal Marítimo de San Sebastián wurde 1921 eingeweiht und 1973 abgerissen. An derselben Stelle steht seit 1999 der neue Kursaal von Rafael Moneo.
Foto: San Sebastián Turismo & Convention Bureau

Eine Stadt wie San Sebastián kann es sich also erlauben, bei diesem Event zuerst an die eigenen Leute zu denken. Sie muss es sogar. "Wir brauchten damals eine kollektive Herausforderung, um dem Terrorismus etwas entgegenzusetzen", sagt Ex-Bürgermeister Elorza. Erste Effekte sind jetzt zu spüren: Angehörige von Opfern und Tätern blicken sich beim Theaterspiel erstmals in die Augen; Jugendliche aus zerrissenen Familien stehen strahlend auf der Bühne; Straßenkehrer oder Bankangestellte fühlen sich als Mitglieder eines Gremiums für die Kulturhauptstadt ernst genommen.

Programmleiter Pablo Berástegui fasst es so zusammen: "Wir möchten, dass unsere Erfahrungen anderen Städten und Regionen dabei helfen, Probleme des Zusammenlebens und Zusammenhalts zu lösen." (Brigitte Kramer, 17.11.2015)