Süße Verführung: Zum Koran gibt es "Nimm zwei"-Zuckerln – beides gratis.

Foto: Christian Fischer

Die drei Männer mit den Wuschelbärten und wallenden Kleidern stehen neben dem Christkindlmarkt, doch sie verkaufen weder Punsch noch Kekse. Goldene Arabesken zieren die Bücher, die sich in vielen verschiedenen Sprachen auf einem weißgedeckten Pult stapeln. "Lies!", mahnt ein Plakat vor dem Stand: "Im Namen deines Herrn, der dich erschaffen hat."

"Wir wollen, dass die Leute den richtigen Islam kennenlernen", sagt der älteste der Aktivisten, der sich als gebürtiger Algerier vorstellt. Immer wieder mischen sich er und seine Mitstreiter deshalb unters Volk – so etwa vergangene Woche, noch vor den Anschlägen in Paris, vor dem Bahnhof Wien Mitte. Mit "Nimm zwei"-Zuckerln als Beigabe drücken sie dann Passanten gratis das Buch der Bücher in die Hände: den Koran.

Bekenntnis gegen den Terror

Die Männer kennen die Vorbehalte, sie beantworten die Schlüsselfrage sicherheitshalber, noch bevor sie gestellt wird. Die Verbrechen des "Islamischen Staats" und anderer Terroristen seien in keiner Weise vom Koran gedeckt, beteuern sie: "Die Schrift ist sauber. Es ist die Politik, die Schlechtes daraus macht." Dass die heilige Schrift Toleranz lehre, zeige allein schon der Umstand, dass Jesus als Prophet darin 25-mal vorkomme.

Die knallig aufgemachte Beipackbroschüre entfacht dabei allerdings Zweifel. Der Islam, erfährt der Ungläubige dort etwa, sei die einzige Chance, um dem "Höllenfeuer" zu entrinnen.

Ultraorthodoxe Auslegung

Auslegungen wie diese gehen offiziellen Vertretern der Muslime gegen den Strich. "Das Missionarsgehabe, der Anspruch auf die alleinige Wahrheit sind alles andere als unser Stil," sagt Amina Baghajati, Sprecherin der islamischen Glaubensgemeinschaft, die mit Verteilungsaktionen per se keine Freude hat: "Der Koran ist kein Werbeprospekt, sondern bedarf intensiver Beschäftigung." Baghajati stuft die Aktivisten als "salafitisch" ein: "Sie pflegen eine ultraorthodoxe, ursprüngliche Auslegung des Islam." Deshalb könne man diesen Leuten aber nicht einfach unterstellen, dass sie ihre Überzeugung politisch oder gar mit Gewalt durchsetzen wollten.

Polizei sieht Kontaktbörse für Salafisten

Genau diesen Verdacht hegt jedoch die Polizei: Sie hält die Akteure hinter der Koran-Verteilung sehr wohl für "Salafisten", ergo für Radikale mit politischer Agenda. Die Szene versuche hierzulande stärker Fuß zu fassen, heißt es in der Abteilung für Verfassungsschutz, zumal es im Nachbarland immer enger werde: Deutsche Verfassungsschützer sehen in den "Lies!"-Ständen eine Kontaktbörse für potenzielle Jihadisten. So mancher Verteiler sei später nach Syrien in den Krieg gezogen.

In Österreich ist bisher freilich weder eine derartige Rekrutierung belegt, noch verbale Hetze der Koranwerber – also ist ihre Aktion rechtlich einwandfrei. Ein Verbot wäre auch unklug, sagt Baghajati: "Die Opferrolle fördert nur Radikalisierung."

Die Männer in Wien Mitte haben ihre Genehmigung griffbereit, sie fühlen sich verleumdet. "Unser Problem sind die Medien", sagt einer: "Gehen Sie doch rüber zu dem Maronibrater. Der schaut auch so gefährlich aus." (Gerald John, 17.11.2015)