Anflug auf den Flughafen Tempelhof. Aus der Vogelperspektive lässt sich das Empfangsgebäude am Platz der Luftbrücke sofort erkennen. Doch etwas irritiert. Rund um die Stadt erheben sich schneebedeckte Berggipfel und die Fluggeräte – genau genommen Luftkissenfahrzeuge – landen nicht auf der Asphaltpiste neben dem charakteristischen Hallenbogen, sondern vor dem Haupteingang. Ist das Berlin?

Nein, es ist Hollywood, das auf der Leinwand die fiktive Welt der "Tribute von Panem" zeigt. Für die Dreharbeiten des vierteiligen Blockbusters, der auf der Romantrilogie von Suzanne Collins basiert, dienten Orte in und um die deutsche Hauptstadt als Locations. Die Reihe spielt in einer nicht näher definierten Zukunft der diktatorischen Nation Panem, die aus dem regierenden reichen Kapitol und 13 umliegenden ärmeren Distrikten besteht. Der Name des Landes leitet sich vom Ausspruch "panem et circenses – Brot und Spiele" ab.

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Foto: AP/Murray Close

Die Architektur des ehemaligen Berliner Flughafens war ausschlaggebend, dass der gesamte Produktionstross nach Europa zog, erklärt Regisseur Francis Lawrence: "Totalitärer Monumentalismus meets klassizistischen Baustil. Berlin erfüllt besonders in Tempelhof die ästhetischen Anforderungen der literarischen Vorlage, und so basierten die ersten Entwürfe der Ausstatter auch auf den Plänen für Hitlers Welthauptstadt Germania." Waren zuerst nur Locationscouts vor Ort, folgten bald die Ausstatter, die Kameraleute sowie die Special-Effects-Abteilung.

Auf der Leinwand sieht man, wie das Gebiet rund um das Empfangsgebäude von Tempelhof den reichen Militärdistrikt 2 darstellt. Die junge Freiheitskämpferin Katniss Everdeen, gespielt von Jennifer Lawrence, landet mit den Hovercrafts der Rebellen zwischen Schuttbergen und läuft mit ihrem Trupp ins Gebäude. Kurz ducken sie sich weg, weil eine nahe Explosion zu hören ist. Schuttberge?

Schuttberge aus Styropor

"Es war eine Auflage der Stadt, dass alles, was im Film zerstört aussieht, aus Styropor zu sein hatte", sagt Regisseur Lawrence. Und weil in der dystopischen Story über den Aufstand gegen den Diktator von Panem viel kaputt geht, schafften viele Trucks auch viel bearbeitetes Styropor heran. 250 Leute vom Filmstudio Babelsberg waren damit beschäftigt, davon allein 120 Handwerker.

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Foto: Reuters / Hannibal Hanschke

Doch die große Menge an Pseudoschutt versetzte die realen Anrainer des Flughafens in Panik. Knapp nach Beginn der Dreharbeiten sollte in Berlin eine Volksbefragung stattfinden. Es ging um den Plan einer Bebauung des Tempelhofer Felds nach der Stilllegung des Flughafens. Der Berliner Senat war für neue Wohnungen und die Ansiedelung von Schulen und Gewerbe.

Die Bürger wollten das mittlerweile als Park genutzte Areal so belassen. Tja, und dann sahen sie plötzlich vor der Befragung etwas, das sie für heimliche Abrissarbeiten hielten. Als ob jemand vorab Fakten schaffen wollte. Der damalige Oberbürgermeister Klaus Wowereit musste so manchen erbosten Anrufer aufklären, dass diese Fakten bloß Fiktion waren.

Fiktive Orte

Der weitläufige Gebäudekomplex Tempelhof bot Kulisse für gleich mehrere fiktive Orte: "Alles, was im Film über den Haupteingang einflog, war Distrikt 2. Alles, was über den tatsächlichen Luftlandeplatz beim Hallenbogen reinkam, war das Kapitol, die Hauptstadt des Regimes", erklärt der Regisseur.

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Foto: APA/EPA/BRITTA PEDERSEN

Ein weiterer Drehort auf dem riesigen Areal ist ein Tunnel unter dem Hauptgebäude. Im Film fährt darin ein Zug mit ausgebombten Flüchtlingen ins Freie. Weil sie aber die Bösen sind, blüht ihnen nichts Gutes, bis Katniss Everdeen vor den Rache suchenden Rebellen eine flammende Rede zur Versöhnung hält. Doch dann fällt ein Schuss, und die Ereignisse nehmen eine dramatische Wendung.

Francis Lawrence erinnert sich gern an diese Szenen: "Die Ausstatter ergänzten alles perfekt, sodass wir die Sequenz durchgängig in der Totalen drehen konnten. Wir verwendeten sogar einen echten Zug. Bloß der Zeitdruck war hoch. Wir drehten diese Nachtszenen im Hochsommer, und die Berliner Sommernächte sind kurz. Dunkelheit gibt es erst gegen 23 Uhr, und knapp nach drei Uhr früh dämmert bereits der Morgen."

Fiktion und Realität

Während Francis Lawrence Medienleuten vor Ort von den sportlichen Timings erzählt, zupft ein kleiner Bub an einem Journalisten. "Biscuit, Biscuit?", fragt der vorwitzige Kleine auf Französisch nach Keksen. Er ist einer von mehr als 2.000 Flüchtlingen, die in den Hangars von Tempelhof eine Notunterkunft beziehen konnten. Die Realität steht der Fiktion also in nichts nach. Als sich der Medientross wieder in Bewegung setzt, bekommt der Kleine eine Packung mit Schnitten von einem der Journalisten zugesteckt.

Neben Tempelhof drehte die Panem-Crew noch an weiteren Schauplätzen in Berlin. Ein ehemaliges Heizkraftwerk in Berlin-Mitte fungiert dabei als Distrikt 13, dem Ort für Atomwaffenproduktion. Im Film liegt er unterirdisch, umso witziger erscheint es da, dass sich die Location in Wirklichkeit ausgerechnet auf dem Dach des Kraftwerks befindet.

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Foto: REUTERS/Hannibal Hanschke

Mit dem Lastenaufzug geht es hinauf in einen fensterlosen Raum, wo früher riesige Tanks die Turbinen mit Wasser versorgten. In diesem fast schon sakral anmutenden Saal mit hoher Decke entwickelt eine Forschungsabteilung neue Waffen für die Rebellen. Katniss schöpft in dieser Kathedrale neue Kraft und erhält hier den eigens für sie angefertigten Bogen, inklusive Pfeile.

Wäre es nicht billiger, solche Räume im Studio aufzubauen? "Man müsste viel Geld in die Hand nehmen, um diese besondere Atmosphäre künstlich zu erzeugen", sagt Francis Lawrence. Steht man in der Halle mit den spitz zulaufenden Betonwänden, lässt sich das nachvollziehen. Das Kraftwerk ist heute für Events und Kulturveranstaltungen buchbar, und die Beschreibungen reichen von "rauer, ruinöser Schönheit" bis zum Attribut "Tate Modern, Berlin-Style".

Sexuelle Freizügigkeit

"Die Crew hierherzubringen ist günstiger, und die Arbeit macht auch mehr Spaß", meint der Regisseur. Außerdem hat er in der nebenan gelegenen Imbissbude Dönerbox seiner Meinung nach den besten Döner Berlins gegessen. Auch der KitKat-Club, ein Techno-Club, der für seine sexuelle Freizügigkeit bekannt ist, liegt gleich um die Ecke, weiß Lawrence. Ging der Spaß dort nach Drehschluss weiter? Der Regisseur lächelt und schweigt.

An einer anderen Stelle in Berlin verfolgen im Film Friedenswächter die Bogenschützin Katniss. Gerade eben überlebte sie eine Attacke durch Mutanten in der Kanalisation des Kapitols, schon sprintet sie durch eine Halle, die jeder Berliner zwar kennt, aber kaum benutzt. Das etwa 60 Meter lange Tunnelstück mit den orange verfliesten Säulen und den kreisrunden Deckenlampen entstand als Fußgängerunterführung im Bezirk Westend zusammen mit dem ICC, dem Internationalen Congress Centrum.

Fußgänger nach unten

Die Verkehrspolitik der 1970er-Jahre trennte mit Vorliebe die Verkehrsarten, um die Stadt "autogerecht" zu entwickeln. Das bedeutete, Fußgänger eine Etage tiefer zu legen, um die Fahrt der Kraftfahrzeuge auf breiten Straßen zu beschleunigen. Noch heute sollen Passanten an der stark frequentierten Kreuzung Masurenallee und Messedamm durch die Unterführung auf die andere Seite, doch die meisten wählen den nicht vorgesehenen und gefährlichen oberirdischen Weg. Auch für Katniss wird es dort gefährlich: Unter Beschuss der Friedenswächter explodiert der Fußboden, und aus den Deckenlampen zischt Dampf, den man wohl nicht auf seiner Haut spüren möchte.

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Foto: AFP PHOTO / TOBIAS SCHWARZ

Heute ist die Anlage in die Jahre gekommen, die Rolltreppen sind nicht mehr ganz fit und fallen oft aus. Dreht hier nicht gerade eine Hollywoodproduktion, erfreut sich der Tunnel unter Berlins Skatern großer Beliebtheit. Der Bodenbelag ist optimal, die Handläufe bei den kleineren Stufenabsätzen ermöglichen ausgefallene Tricks, und weil es hier nicht regnen kann, eignet sich der Tunnel sowieso als idealer Schlechtwetter-Spot. Nur bei einer Stiege wird man schon nach den ersten Skate-Versuchen weggeschickt, weil es dort eine Überwachungskamera gibt. Ansonsten gilt ein inoffizielles Abkommen mit der Berliner Polizei: keinen Dreck machen, dann gibt es auch keine Probleme.

Auch das Panem-Produktionsteam schien sich an diese Absprache zu halten: Nach Drehschluss wurde der ganze Styroporschutt wieder weggeräumt, und unzählige Lastwagen transportierten ihn zurück nach Babelsberg. (Peter Fuchs, 23.11.2015)