Kabarett im Krieg – eine Aufnahme einer spontan organisierten Vorstellung des "Kroatischen Kriegsschauspiels" 1991 oder 1992. Die Gruppe tourte entlang der Frontlinie.

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STANDARD: Wie hat die Kulturszene in Serbien auf den wachsenden Nationalismus in den 1980ern reagiert?

Dragićević Šešić: Die Kulturszene teilte sich in jene, die sich in diese nationalistischen Bewegungen begeben haben, jene, die über dem stehen wollten, aber dann entschieden haben, sich nur mit konventionellen Themen auseinanderzusetzen, und jene junge Generation, die nicht verstehen wollte, was passierte, und sich dachte, dass wir endlich Freiheit genießen. Und irgendwie gab es ja auch eine Freiheit, wir hatten etwa kulturelle Zentren.

STANDARD: Als man sich immer mehr dem Krieg näherte, was geschah da?

Dragićević Šešić: Wenn es etwa um Subkultur ging, so gab es bis 1987 Geld. Aber dann wurde das gestoppt, weil Milošević an die Macht kam. 1987 kam etwa auch das Ende für unsere Rundschau über Subkultur.

STANDARD: Wie reagierte man an den Theatern?

Dragićević Šešić: In den 1980er-Jahren gab es unabhängige Theatergruppen, die an öffentlichen Theatern auftreten konnten und ziemlich politische Themen wählten. Und sie hatten genügend Publikum in Belgrad. Aber dann wurde das sofort gestoppt.

STANDARD: Weshalb?

Dragićević Šešić: Die Leute wurden auf den Krieg vorbereitet, und sogar vernünftige Menschen dachten damals, dass man in diesen Zeiten nicht nach Freiheiten fragen sollte.

STANDARD: Galt man damit als Verräter?

Dragićević Šešić: Man wurde als jemand gesehen, der nicht beachtet, dass so viele Serben leiden, dass etwa Đorđe Martinović von den Albaner vergewaltigt worden sei (der Fall Đorđe Martinović wurde 1985 zu einer Affäre, es handelte sich um einen Bauern im Kosovo, der angeblich sexuell missbraucht worden war, Anm. der Red.). Ich weiß nicht, was passiert ist. Aber 99 Prozent der Leute glaubten, dass er wirklich vergewaltigt worden war. Und nur ein Prozent dachte, dass das eine Manipulation war. Die Atmosphäre war so, dass die Leute fernsahen und tatsächlich zu weinen begannen. Und wenn ich gesagt habe: Schaut, das sind doch Übertreibungen, dann haben die geantwortet: Du denkst nur an deine Karriere und nimmst Geld aus dem Westen für Aufführungen, die unsere Nation beschuldigen.

STANDARD: Sie wurden Verräterin genannt?

Dragićević Šešić: Schlimmer noch: korrupte Verräterin.

STANDARD: Wie waren die Verbindungen unter den Theatern im Krieg?

Dragićević Šešić: Aus dem Ausland konnte niemand kommen, weil wir unter Embargo standen. Die serbischen Regisseure wurden nirgends eingeladen, außer wenn sie emigrierten. Wir konnten jemanden einladen, aber die Leute zögerten zu kommen, außer vielleicht ein paar Nationalisten aus Frankreich. Für mich war diese Zeit auch sehr schwierig.

STANDARD: Weshalb?

Dragićević Šešić: Ich war Professorin für Europäische Diplome für Kulturmanagement, und das Programm wurde von Brüssel aus organisiert. Der belgische Direktor war dauernd unter Druck, mich zu entlassen. Nur meine Sprachkenntnisse haben mich gerettet.

STANDARD: Sie hatten ja in Frankreich gelebt und konnten daher gut Französisch.

Dragićević Šešić: Ja, so habe ich überlebt. Ich erinnere mich: Während der Friedensverhandlungen in Dayton war ich gerade in Österreich für dieses Programm für Europäische Diplome. Der österreichische Vertreter des Ministeriums hat mich vorher nie angesprochen oder sich neben mich gesetzt. Die Nordeuropäer haben sich genauso verhalten. Weil ihre Regierungen gesagt haben: Sprecht nicht mit den Serben, haben sie nicht mit den Serben geredet. Aber plötzlich hat der österreichische Vertreter dann mit mir kommuniziert. Das werde ich nie vergessen. Denn so habe ich erfahren, dass das Friedensabkommen unterzeichnet und das Embargo aufgehoben worden war.

STANDARD: Das war im November 1995?

Dragićević Šešić: Ja, wahrscheinlich hat sich der Österreicher schon die ganze Zeit unwohl gefühlt.

STANDARD: Waren Theatermacher in dieser Zeit in Serbien in einer Art Widerstand?

Dragićević Šešić: 1992, als sie Vida Ognjenović im Nationaltheater entlassen haben, sind sechs der besten Schauspieler und der Generalmanager auch gegangen. Manche von ihnen haben andere Jobs bekommen. Ognjenović hat dann viel in Montenegro gemacht.

Montenegro war zu dem Zeitpunkt überhaupt sehr wichtig, weil es dort Sommerfestivals gab und sogar Leute aus dem Ausland dorthin kamen. Es war auch die Zeit, als unabhängige Gruppen oder das Zentrum für Kulturelle Entgiftung und viele Theaterleute und Komponisten etwa im Kulturzentrum REX zusammenkamen. Stücke wie "Die Geschichte eines Soldaten" oder "Mutter Courage" wurden auf die Bühne gebracht, also Sachen, die eine Friedenskomponente oder antimilitaristische Komponente hatten. In der Stadt Belgrad war die Situation liberaler. Das Jugoslawische Drama-Theater konnte zwischendurch kritische Aufführungen reinschmuggeln.

STANDARD: Aber Sie haben das trotzdem boykottiert?

Dragićević Šešić: Nein, aber ich dachte, es ist jetzt nicht Zeit, so wohin zu gehen. Dann kam Ljubiša Ristić aus Subotica zurück, und er hat die Zuckerfabrik für sein Theater KPGT als Geschenk bekommen. Aber das gebildete Theaterpublikum ist dort nie hingegangen. Bis heute gibt es dort viele Shows.

STANDARD: Offenbar ging die Zusammenarbeit zwischen den Theatern in den Teilrepubliken schnell vorbei, als Jugoslawien zerfiel, oder?

Dragićević Šešić: Die Kulturagenden waren bereits seit dem Jahr 1950 auf der Ebene der Republiken angesiedelt. Also wurden auch die Theater für alle Republiken unterschiedlich aufgebaut. Aber die Theatergruppen trafen sich bei Festivals, und da gab es Kooperationen. Und es gab Koproduktionen, etwa auch zwischen den Filmfonds in Zagreb und in Belgrad. Aber als der Nationalismus stärker wurde und wir in Belgrad gegen die Manipulationen im Fernsehen demonstrierten, haben die anderen sich gedacht: Lasst die in Belgrad! Belgrad wurde von außen als eine einheitliche Gesellschaft angesehen.

STANDARD: Die haben nicht wirklich gewusst, was in Belgrad los war?

Dragićević Šešić: Die haben nur gewusst, dass die Hauptströmung nationalistisch war, aber Nationalismus gab es da bereits überall. Für mich war das kurzsichtig. Doch die Mainstream-Medien waren damals bereits von den neuen Strukturen kontrolliert. Und mit dieser neuen kapitalistischen Ausrichtung kamen auch die neuen Themen, nämlich Nation und Identität.

STANDARD: Ab wann hat man in den Republiken Jugoslawiens in der Theaterszene nicht mehr zusammengearbeitet?

Dragićević Šešić: Als Slowenien und Kroatien rausgingen und der Krieg begonnen hat.

STANDARD: Hat man nicht mal Kontakt gehalten?

Dragićević Šešić: Es gab nur persönliche Kontakte, aber nicht auf professioneller Ebene. Es gab ja keine Institutionen mehr, die zusammenarbeiten konnten. Als der Krieg begann, haben die Serben ja sofort Barrikaden errichtet. Und da konnte man dann erst recht nicht zusammenarbeiten, die haben ja die Territorien abgeschnitten. Und für die Serben in Kroatien war es dann noch schwieriger als für uns.

STANDARD: Wie haben die unabhängigen Theaterleute dann in diesen Jahren in Serbien überlebt?

Dragićević Šešić: Durch ausländische Fonds.

STANDARD: In Syrien ist das jetzt nicht der Fall.

Dragićević Šešić: Die bekommen kein Geld für Kunst, nur Geld für soziale Betreuung oder Sozialtherapie.

STANDARD: Wie wichtig war das, dass es in Ex-Jugoslawien damals Geld für Kunst – etwa von George Soros – gab?

Dragićević Šešić: Für die jungen Künstler war das die einzige Möglichkeit, rauszukommen und sich auszutauschen. Und dass es jetzt nichts Ähnliches für syrische Künstler gibt, zeigt unsere europäische Arroganz, nach dem Motto: Die müssen froh sein, wenn sie etwas zu essen und ein wenig Medizin bekommen. Es gibt ein paar Top-Fachleute, die nun in Beirut unterrichten. Aber alle anderen müssen irgendeinen Job machen.

Ich kann mich noch erinnern, als ich 1992 in Schweden war, und da haben die Beamten meinen Pass rausgefischt, und ich habe sie gefragt, warum, und dann haben die gesagt: Wir haben nachgeschaut, ob Sie Bosnierin sind. Denn wenn Sie Bosnierin gewesen wären, dann hätten wir Ihnen die Einreise verweigert, weil wir schon zu viele Bosnier im Land haben. Viele Bosnier hatten ja damals noch jugoslawische Pässe. Und das Gleiche passiert heute: Nun lassen sie keine Leute aus Bangladesch mehr nach Europa. (Adelheid Wölfl, 24.11.2015)