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Die Entdeckung von Amerika hat auch ein bestimmtes Wissen hervorgebracht – etwa die Rassenlehre, mit der man Menschen in Zivilisierte und Barbaren einzuteilen versuchte. Im Kupferstich von Theodor de Bry von 1594 trifft Christoph Kolumbus auf amerikanische Ureinwohner.

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Klagenfurt – Die Wissenschaft gibt gerne vor, Phänomene unbeteiligt von außen zu betrachten. Um den Anschein der Objektivität zu wahren, erweckt sie den Anschein, nicht direkt in ihren Forschungsgegenstand involviert zu sein. Vor allem wenn es um gesellschaftliche Forschungsbereiche geht, lässt sich das unbeteiligte Bild des Wissenschafters nicht ohne weiters aufrechterhalten.

Was ist zum Beispiel mit jenen Wissenschaftern, die das Denkgerüst des Rassismus einst schufen und über Jahrhunderte ausbauten, sodass es noch heute zu tragen vermag? An sie und ihre Geistesprodukte denkt man meist nicht, wenn von Gewalt in ihren vielfältigen Erscheinungsformen die Rede ist.

Was man hier ausblendet, wird mit dem Begriff der epistemischen Gewalt umrissen: "Mit ihm wird beforscht, inwiefern Wissens- und Forschungspraktiken selbst in einem Zusammenhang mit politischen Gewalt-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen stehen", sagt die Politologin Claudia Brunner, die in ihrem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Else-Richter-Habilitationsprojekt an einer Theoretisierung von epistemischer Gewalt arbeitet.

"Wissenschaft und Gewalt werden in der Regel als völlig voneinander getrennt verstanden. Ich gehe aber von einer postkolonialen Perspektive aus, in der die Entwicklung der Wissenschaften zutiefst mit der Herausbildung bis heute wirksamer ungleicher geopolitischer und damit auch sozialer Verhältnisse verknüpft ist", sagt Brunner. So habe die mit der Entdeckung von Amerika begonnene Expansion Europas ein bestimmtes Wissen hervorgebracht: etwa einen Rassebegriff, mit dem man Menschen in Zivilisierte und Barbaren einteilen konnte.

Letztere zu vernichten oder als Sklaven auszubeuten wurde damit beträchtlich erleichtert und legitimiert. "Auch wenn der Kolonialismus heute formal weitgehend beendet ist, dauert die Kolonialität weiter an", so Brunner. "Trotz der Proklamation der Menschenrechte ist der Rassismus nach wie vor wirksam und erzeugt vielfältige Ungleichheiten."

Aber nicht nur die Rassenlehre ist im Zuge der Kolonialisierung der Welt entstanden: Die Ethnologie hat die zu unterwerfenden Völker erkundet, die Ökonomie den Aufbau des Kapitalismus begleitet, die Politikwissenschaft den Nationalstaat mit hervorgebracht, die Geografie hat die Landschaft vermessen und die Biologie alles Lebende von den Pflanzen bis zu den Menschen typisiert, um es besser beherrschen und benutzen zu können.

"Gemeinsam sorgten diese und weitere Disziplinen für die Durchsetzung von Ordnung und Herrschaft, was nur mit der Anwendung dieses autoritativen und eurozentrischen Wissens gelingen konnte", sagt Brunner. Das in diesem Zusammenhang hervorgebrachte Wissen, die Theorien und Methoden, bestimmte Begriffe und sogar die Organisationsform von Wissen selbst seien von Gewaltförmigkeit geprägt, die man als epistemische Gewalt bezeichnen kann.

Die Illusion der Objektivität

Die von der post- und dekolonialen Denktradition hervorgehobene Situiertheit jeglicher Wissensproduktion präge auch den gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb, meint Brunner. Er sei keineswegs frei von epistemischer Gewalt: "Man denke an die zunehmende Quantifizierung von Wissenschaft, die Forderung, jede Erkenntnis in Zahlen auszudrücken. Dadurch wird ein bestimmtes Verständnis von Wissenschaft geprägt, das die Naturwissenschaften bevorzugt und andere Wissenschaftsbereiche abwertet."

Als Politikwissenschafterin in der Friedens- und Konfliktforschung mit Affinität zur Wissenssoziologie und langjähriger Gender-Studies-Erfahrung ist es für Brunner selbstverständlich, ihrem Forschungsprojekt eine transdisziplinäre Ausrichtung zu geben. "Im Diskurs über politische Gewalt sind verschiedene Debattenstränge bislang schlecht miteinander verbunden. Das möchte ich ändern, indem ich die vielen, aber zu engen Gewaltbegriffe aus den Sozialwissenschaften mit Debatten über Wissen und Gewalt aus der post- und dekolonialen Theorie zusammenführe."

Ziel der am Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt beheimateten Forscherin sei es, mit ihrem Theorieprojekt "ein fundierteres Konzept von epistemischer Gewalt zu entwickeln, um diese besser erkennen, benennen und mit politischer Gewalt zusammendenken zu können."

Oberflächliche Debatten

Ein Beispiel dafür sei etwa der Begriff "humanitäre Intervention": In vielen Fällen erleichtere er die Anwendung von Gewalt, da diese dank des positiv konnotierten Etiketts oft gar nicht als Gewalt wahrgenommen werde. Auch die Verwendung von Begriffen wie Terrorist oder Terrorismus könne epistemische Gewalt beinhalten, je nachdem, von wem sie wann zu welchem Zweck eingesetzt werden. "Im Gewaltdiskurs verweist der Begriff der epistemischen Gewalt sowohl auf den diskursiven Kontext als auch auf historisch-politische Hintergründe", sagt Brunner. "Ein großes Problem politischer Debatten ist ihre Abgeschnittenheit von historischen und wissenspolitischen Zusammenhängen, wodurch sie oft an der Oberfläche bleiben."

Um Konflikte transformieren zu können, muss man sie aber bis in ihre Tiefenstrukturen hinein erfassen. Die Einbeziehung des Begriffs der epistemischen Gewalt in die Reflexion und Diskussion kann den Blick auf Gewaltphänomene zweifellos schärfen. Denn mit der entsprechenden Theorie werden die verborgenen Verbindungslinien zwischen Politik und dem unhinterfragt "Wahren", zwischen Gewalt und Wissen, zwischen Betroffenen und Profiteuren von Gewaltverhältnissen besser erkennbar. (Doris Griesser, 25.11.2015)