Stefan Merki und Annette Paulmann in der von Jürgen Tulzer ausgeleuchteten Stube des Seewirts in "Mittelreich" nach dem gleichnamigen Roman von Josef Bierbichler an den Münchner Kammerspielen.


Foto: Judith Buss

Josef Bierbichlers Romandebüt Mittelreich, 2011 bei Suhrkamp erschienen, ist ein autobiografisch grundierter Aufriss von sechzig Jahren deutscher Zeitgeschichte (ab 1914). "Ich hab' versucht, Deutschland aus der Sicht eines Dorfes zu beschreiben", so der Schauspieler damals im Interview mit dem Standard. Ein Seewirtshaus in Bayern mit farbenprächtigem Figurenpersonal repräsentiert darin die Auswüchse zweier Weltkriege und deren Nachwehen bis herauf zur Flowerpower-Bewegung der 1970er-Jahre.

Dieser als Landwirtschaft und Wirtshaus geführte "Seewirt" (im echten Leben heißt Bierbichlers Gasthof "Fischmeister" und liegt am Starnberger See) versammelt Menschen, die das Jahrhundert so nach und nach ausspuckt: Kriegsheimkehrer, arbeitslose Thronfolger, KZ-Häftlinge, Flüchtlinge aus dem Osten, Sommerfrischler (vulgo "Stadterer"), einzelgängerische Künstler und die sie mit undefinierbarer Freundlichkeit beherbergenden Bauern und deren Nachbarn. Zwei Seewirtgenerationen sind zentral: Vater Pankraz und Sohn Semi Birnberger (Bierbichlers Alter Ego), beide auf ihre Weise keine geborenen Wirte ("Das Diktat des Besitzes").

Selig sind, die da Leid tragen

Aus dem Roman hat nun Regisseurin Anna-Sophie Mahler mit Dramaturgin Johanna Höhmann eine Fassung für die Münchner Kammerspiele erstellt, die jeden Anflug von herzhaftem Provinzpanoptikum von vornherein mit Gespür und klarem Entschluss untergräbt: Von Johannes Brahms' Ein deutsches Requiem ausgehend, das zur Beerdigung des alten Seewirts (Stefan Merki) gespielt wird, entwickelt Anna-Sophie Mahler ein Musiktheaterstück, das mit dem Chor des Jungen Vokalensembles München eine "Tonspur" implementiert, die vom Originaltext nur noch den Atem der Melancholie übernimmt ("Selig sind, die da Leid tragen"). Die Uraufführung gleicht dem Einatmen in einen tristen, von Nazivergangenheit und Generationenkonflikt vergifteten Zustand, über dem die Begriffe Verdrängung, Schuld und Trauer schweben. Liedphrasen gehen dabei umstandslos in gesprochene Dialoge über; ein Großteil des Textes vermittelt sich als Erzähltheater, für das die Schauspieler frontal Aufstellung nehmen. Das zuweilen abenteuerliche Innenleben des Romans ist gestrichen.

Das Konzept ist edel und schlüssig, wird meisterhaft ausgeführt, doch lässt es über zwei Stunden lang wenig Lebendigkeit zu. Ein wenig Farbe bringt das hermaphroditische Fräulein Zwittau (Damian Rebgetz) in das formalisierte Steh- und Sitztheater, das sich über zwei in den Bühnenhintergrund hinein angeordnete, rauchgelbe Räume erstreckt (Bühne: Duri Bischoff).

Diese Tiefe erzeugt jene wichtige Distanz, die zwischen den Figuren und zuweilen zwischen den Zeiten liegt (vom Begräbnis wird Rückschau gehalten). Die Sterbenden gehen jeweils über eine Treppe an der Rampe zu den Musikern in den Orchestergraben ab (Leitung: Bendix Dethleffsen; Dirigentin Julia Selina Blank). Die Musik nimmt sie gewissermaßen in ihrer Trauer auf. Die Toten leben in den Tönen weiter.

Das verhaltene, geradezu eingesperrte Spiel von Schauspielern wie Steven Scharf (als Semi) oder Annette Paulmann (als Theres) erzeugt Beklemmung. Aber auch (sofern man einen weniger guten Sitzplatz zur Verfügung hat) ein wenig Langeweile. Vieles bleibt ungehört, wie ins Abseits gesprochen. Nur in wenigen Momenten kann man sich an konkreten sozialen Ereignissen festhalten, etwa wenn der junge Semi (Thomas Hauser) Gesangsunterricht bei der eingemieteten Kammersängerin nimmt, bis der Vater ihn dann doch in die Wirtshauskarriere hineinzwingt. Oder wenn Victor (Jochen Noch) gleichmütig vom Osten erzählt.

Die Uraufführungsinszenierung hinterlässt zunächst den Eindruck, als habe sich die Regisseurin mehr für Brahms und dessen Erlösungsverneinung als für Bierbichlers gut durchbluteten, erfahrungssatten Heimatroman interessiert. Ihr gelingt es damit aber, den Text zu beflügeln, ihn auf eine andere Ebene zu heben, eine Spur aufzugreifen, die aus dem unmittelbaren Dilemma des oktroyierten Lebens hinausweist. (Margarete Affenzeller, 24.11.2015)