In der Frage des Umgangs mit Migranten im Allgemeinen beziehungsweise Flüchtlingen im Speziellen liegen in Europa die Nerven blank. Das gilt nicht nur für die Bürger. Quer durch alle Schichten und Altersgruppen wird diskutiert bis gestritten, was man "mit denen" nun tun soll: Die Bandbreite zwischen "Grenzen dichtmachen" und "Kontrollen sind sinnlos" ist groß – je nach Standpunkt.
Bei einem "Bürgerforum" des ORF mit Kanzler und Vizekanzler sowie den Chefs der Oppositionsparteien am Mittwoch ließ sich die Polarisierung zur besten Sendezeit gut beobachten. Auch auf höchsten politischen Ebenen ist eine gewisse Verunsicherung spürbar – angefeuert durch Terroranschläge und -drohungen der Islamisten in Frankreich und Belgien.
So fiel der französische Premierminister Manuel Valls nur wenige Stunden vor einem Besuch der deutschen Kanzlerin Angela Merkel aus der Rolle und seinem Präsidenten François Hollande in den Rücken. Dieser wollte die Deutsche vom Mitmachen im militärischen Kampf gegen den Terror überzeugen. Valls hingegen diktierte einer kleinen Gruppe von Journalisten vorab in die Notizblöcke: "Wir können nicht noch mehr Flüchtlinge in Europa aufnehmen, das ist unmöglich." Als die Nachricht von seiner Forderung nach "Flüchtlingsstopp" in Berlin angekommen war, versuchte Paris das als "Übersetzungsfehler" kleinzureden.
Zu spät. Der Sozialist Valls hatte stimmungsmäßig in das Wespennest des innerdeutschen Koalitionsstreits von CDU/CSU/SPD gestochen. Merkel legt großen Wert darauf, dass Flüchtlingen gemäß deutschem Grundgesetz und EU-Charta bedingungslos geholfen wird ("Wir schaffen das!"). Nicht nur dieses Beispiel zeigt, dass Europa offenbar an einem "entscheidenden Punkt angelangt ist, "was den Umgang mit den Freiheiten im Inneren und mit Schengen betrifft" (so Merkel bei der Generaldebatte im Bundestag). Es geht um mehr als nur um Flüchtlinge.
Norwegen, das nach den Breivik-Attentat "mehr Demokratie" beschwor, will Flüchtlinge im arktischen Norden verstärkt nach Russland abschieben. Schweden; das relativ mehr Flüchtlinge als irgendwer sonst aufnahm, kündigte schärfere Grenzkontrollen an. Es sieht also so aus, als könnte in Europa bereits vier Monate nach dem Ansteigen der Migrantenzahlen der liberale Umgang mit Flüchtlingen auf der Strecke bleiben. Da und dort frohlocken die radikalen und rechten Parteien schon, die gleich auch die europäische Integration mitentsorgen, Euro und Schengen beerdigen, nationale Kontrollen einführen möchten.
Aber so einfach ist es eben nicht. Die Flüchtlinge sind – neben Finanz-, Banken- und Eurokrise, neben der Jobmisere, neben Kriegs- und Terrorgefahr – ein vergleichsweise kleineres Problem. Auf sie wird viel projiziert. Aber eine einfache Lösung für alle die vernetzten Schwierigkeiten, mit denen die EU-Staaten seit 2008 kämpfen, gibt es nicht. Vielmehr braucht es – so wie bei der Schulden- und Eurokrise – das gemeinsame Zusammenwirken der Staaten in der EU mehr denn je, mit Führungsnationen an der Spitze, die von gemäßigten Politikern regiert werden.
Jenseits der unbestreitbaren Erfolge von Nationalisten wie zuletzt in Polen sollte man das nicht aus den Augen verlieren. Wie beim Euro gilt es die Mängel im EU-Vertrag zu beseitigen, den berühmten "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" Wirklichkeit werden zu lassen. In diesem haben viele Flüchtlinge ihren sicheren Platz. (Thomas Mayer, 25.11.2015)