Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: AP/Henrietta Wildsmith

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: EPA/WAFB TV

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: AP/Douglas Collier

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: AP/Douglas Collier
Almuth Herrmann
Almuth Herrmann

Marty Stroud mag historische Filme, er mag alte Bücher, er blättert gern in vergilbten Zeitschriften und hätte wohl Geschichte studiert, wäre sein Vater nicht strikt dagegen gewesen. Er gebe sein Geld doch nicht dafür aus, dass der Junge ein liberaler Geschichtsprofessor werde, zitiert Stroud den Senior, einen Generalmajor der Nationalgarde. "Liberal", erklärt er, "das klang hier unten im Süden so, als rede man von Kommunisten."

Sein Interesse für Geschichte jedenfalls hat nie nachgelassen, man merkt es schon an den Vergleichen, die er anstellt. Der Prozess gegen Glenn Ford, sagt Stroud, lasse ihn an den Titel eines Magazins denken, auf dem zu sehen war, wie äthiopische Krieger nur mit Speeren bewaffnet versuchen, die vorrückenden Panzer des italienischen Diktators Benito Mussolini aufzuhalten. Ford sei der Mann mit dem Speer gewesen. "Er hatte nicht die Spur einer Chance. Und ich war noch stolz darauf."

Marty Stroud: "Wenn ihr bei jemandem Schuld sucht, dann sucht sie bei mir."
Almuth Herrmann

Ford saß fast drei Jahrzehnte lang in der "Death Row", dem Gefängnistrakt, in dem zum Tode Verurteilte auf ihre Hinrichtung warten. In einer winzigen Zelle, anderthalb Meter breit und zwei Meter lang. Wegen eines Mordes, den er nicht begangen hatte. Angola, die Haftanstalt, in der er eingesperrt war, hat einen denkbar schlechten Ruf: In den schwülheißen Sommern Louisianas können die Temperaturen in den Zellen auf über vierzig Grad Celsius steigen. Als Ford am 11. März 2014 freigelassen wurde, weil einer, von dem Stroud nur sagen darf, er sei Polizeiinformant, überzeugend seine Unschuld nachwies, hatte er 29 Jahre, drei Monate und fünf Tage hinter Gittern verbracht.

"Keiner übernimmt Verantwortung"

Stroud war der Staatsanwalt, der die Todesstrafe beantragte. Er ist der erste und bisher einzige, der sich öffentlich für einen Fehler entschuldigt. Zwar wurden seit 1973, seit es entsprechende Statistiken gibt, 156 Death-Row-Insassen rehabilitiert, die meisten entlastet im Zuge nachträglicher DNA-Analysen. Von den Juristen, die an den falschen Urteilen mitwirkten, lässt indes nur einer sichtbar Reue erkennen. Ansel Martin Stroud III, genannt Marty. Wenn etwas schiefgehe, sagt er, halte die Bürokratiemaschine entrüstet dagegen, dass man doch nur seinen Job gemacht habe. "Keiner übernimmt Verantwortung. Aber verdammt noch mal, ich war damals der Chefankläger. Wenn ihr bei jemandem Schuld sucht, dann sucht sie bei mir."

Der Weg zu dem 64-Jährigen führt in ein gesichtsloses Allerweltsviertel der Stadt Shreveport, zu einem Betonklotz, der den spröden Charme der 1970er-Jahre verströmt. Shreveport liegt im Nordwesten Louisianas, am Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs war es die letzte Hauptstadt der Südstaaten-Konföderierten, deren Niederlage bereits besiegelt war. Bis 2011 wehte vor dem imposanten Gerichtsgebäude an der Texas Street die Flagge der Konföderierten, jenes blaue Diagonalkreuz auf rotem Grund, in dem nicht nur Afroamerikaner – aber diese vor allem – ein Symbol des Rassendünkels sehen. "Es gibt hier Leute, die noch immer den Krieg gegen die Yankees ausfechten wollen", sagt Stroud.

Bild nicht mehr verfügbar.

Bild von einer Videoaufnahme: Glenn Ford am Tag seiner Entlassung.
Foto: EPA/WAFB TV

Er empfängt Besucher im Kunstblumenambiente seiner privaten Anwaltskanzlei. 1989 hat er die Seiten gewechselt, seitdem ist er Verteidiger in Strafprozessen, kein Ankläger mehr. Er spricht schleppend, sucht lange nach Worten, ein Melancholiker, der manchmal wirkt wie ein gebrochener Mann. "Ich war zu jung für den Fall", räumt er schnörkellos ein. "Mit 34 fehlt dir einfach die Lebenserfahrung. Ich wollte Erfolge. Ich wollte, dass es schnell geht." Ein Zeuge habe ihm hinterher – es war als Glückwunsch gedacht – eine rhetorische Frage gestellt: "Na, wie fühlt es sich an, den schwarzen Handschuh zu tragen?" Den Handschuh der Macht, den Lederhandschuh des Polizisten. "Damals war ich stolz. Heute könnte ich mich übergeben."

Rückblende. Der 5. November 1983. In Shreveport wird Isadore Rozeman, ein alter Mann, der Uhren repariert und Schmuck verkauft, in seinem kleinen Laden im Parterre seines Hauses ermordet. Ford, der bei Rozeman den Rasen mähte, gerät ins Visier der Ermittler. Nachbarn wollen ihn zur Tatzeit in der Nähe des Tatorts gesehen haben. Als der Afroamerikaner erfährt, dass die Polizei nach ihm sucht, geht er freiwillig zur nächsten Wache. Ärger kann er nicht gebrauchen, er ist aktenkundig bekannt. In Kalifornien, wo er eine Zeitlang lebte, brach er in Wohnungen ein, um Wertsachen zu stehlen. Zurück in Louisiana, seiner alten Heimat, will er ein neues Kapitel aufschlagen.

Das Gerichtsgebäude von Shreveport, vor dem unter einer mächtigen Eiche ein Denkmal zu Ehren der Südstaatensoldaten des amerikanischen Bürgerkriegs steht.
Almuth Herrmann

Den Beamten erzählt er, dass ihm ein Bekannter, den er nur O. B. nennt, Schmuck aus Rozemans Besitz gab und er bei einem Pfandleiher ein paar Dollar dafür kassierte. Hinter O. B. verbirgt sich ein gewisser Henry Robinson, Indizien lassen vermuten, dass er und sein Bruder Jake den Juwelier auf dem Gewissen haben. Als drei Monate später Anklage gegen Ford und die Robinsons erhoben wird, lenkt Jake Robinsons Freundin Marvella Brown den Verdacht auf Ford: Sie habe ihn am Tag des Mordes mit einer Schusswaffe in der Nähe des Rozeman-Anwesens gesehen. Beim Kreuzverhör nimmt sie die Aussage zurück: "Ich habe das Gericht belogen, alles war erfunden." Zu dieser Zeit aber, erinnert sich Stroud, habe er sich schon ganz auf Ford "eingeschossen".

Schlampige Gutachten

Gutachter liefern Gutachten, die ihn belasten, auch wenn sie auf schlampiger Arbeit beruhen. Die beiden Pflichtverteidiger verzichten aufs Einholen von Expertenmeinungen, weil sie glauben, selber die Kosten dafür tragen zu müssen. Der eine hat Erfahrungen in der Öl- und Gasindustrie, der andere mit Versicherungsfällen. Nominiert wurden sie von der lokalen Anwaltskammer; sie waren dem Alphabet nach an der Reihe.

Die Geschworenenjury, die Ford schuldig spricht, besteht durchwegs aus Weißen, obwohl die Bewohner des Caddo Parish, des Verwaltungsbezirks, zu dem Shreveport gehört, zu rund 40 Prozent dunkle Haut haben. Die sechs schwarzen Kandidaten sortiert Stroud ausnahmslos aus, bevor der Richter seine Auswahl genehmigt. Nach der Urteilsverkündung geht er mit Kollegen in eine Kneipe. Sie singen, feiern, bringen Trinksprüche aus. Der aufstrebende Staatsanwalt Marty Stroud hat seinen ersten großen Fall erfolgreich abgeschlossen und eine weitere Sprosse auf der Karriereleiter erklommen.

Bild nicht mehr verfügbar.

Glenn Ford kurz vor seinem Tod.
Foto: AP/Henrietta Wildsmith

Am 11. März 2014 durfte Glenn Ford das Gefängnis verlassen, im Jahr darauf, am 29. Juni 2015, starb er an Lungenkrebs. Seitdem versuchen seine Hinterbliebenen dem Bundesstaat Louisiana eine Entschädigung abzuringen. Für jedes Jahr in der Zelle hätten ihm 11.000 Dollar zugestanden, insgesamt also 330.000 Dollar. Tatsächlich bekam er am Tag seiner Entlassung 20 Dollar in Form eines Geschenkgutscheins. Von dem Geld kaufte er sich ein Brathähnchen, Pommes und eine Cola. Danach hatte er acht Dollar und 67 Cent übrig, erzählt Stroud mit trauriger Akkuratesse.

Der erste Leserbrief seines Lebens

Der Staat Louisiana habe sich damit herausgeredet, dass Ford schon vor 1983 Straftaten begangen habe – "Irrelevant", protestiert der Jurist. Als das Lokalblatt "Shreveport Times" in einem Leitartikel angemessene Wiedergutmachung verlangte, schrieb er den ersten Leserbrief seines Lebens. "Es war kein faires Verfahren, ich weiß es, ich war dabei. Ich war arrogant, narzisstisch und selbstgerecht. Gerechtigkeit hat mich weniger interessiert als zu gewinnen. Gewinnen war alles."

Kurz darauf traf er sich zum ersten Mal mit Ford, 15 Minuten nur, in New Orleans. Er habe den Todkranken um Verzeihung gebeten. "Er sagte: Verzeihen kann ich Ihnen nicht, dazu haben Sie mein Leben zu sehr geprägt."

Video vom Treffen zwischen Marty Stroud und Glenn Ford.

In den Jahren nach dem verhängnisvollen Richterspruch ist Stroud ins Grübeln gekommen. Ein Buch der amerikanischen Ordensschwester Helen Prejean, "Dead Man Walking", hat nach seinen Worten dabei eine wichtige Rolle gespielt. "Wir können der Regierung nicht einmal vertrauen, wenn es ums Ausbessern von Schlaglöchern geht. Wie können wir ihr dann Fragen von Leben und Tod anvertrauen?", wiederholt er einen Einwand Prejeans. Einer seiner Gegenspieler, ein Jurist namens Dale Cox, bis Mitte November kommissarisch Bezirksstaatsanwalt im Caddo Parish, hält in so drakonischen Worten dagegen, dass er es zu landesweiter Berühmtheit brachte. "Ich denke, wir sollten noch mehr Menschen töten", sagte Cox der "New York Times". "Wirkungsvolle Vergeltung liegt im gesellschaftlichen Interesse."

Der Mann, kommentiert Stroud, hätte besser in die Ära Heinrichs VIII. gepasst, des englischen Königs, der wie im Wahn Köpfe rollen ließ. Cox übrigens war als junger Mensch gegen die Todesstrafe, als Stroud noch fest an ihren Sinn glaubte. Heute verweist dieser auf Statistiken, nach denen jeder Neunte, ausgehend von der Zahl der nachträglich Entlasteten, zu Unrecht im Todestrakt sitzt. Wäre die amerikanische Justiz eine Fluglinie, wäre das so, als würde jede neunte Maschine abstürzen. "Niemand würde sich bei einer solchen Fehlerquote noch in ein Flugzeug setzen. Wir aber machen unbeirrt weiter." (Frank Herrmann aus Shreveport, 27.11.2015)