Bild nicht mehr verfügbar.

Romano Prodi geht mit der EU hart ins Gericht.

Foto: EPA / Julien Warnand

Für Romano Prodi ist es keine Frage, ob die Balkanländer zur EU gehören sollen; es gehe höchstens darum, wann sie zur Union stoßen. "Europa ohne Balkan – ohne Serbien, ohne Albanien – ist kein Europa", sagt der ehemalige EU-Kommissionspräsident im Gespräch mit dem STANDARD. Die Kritik, dass die EU während seiner Brüsseler Amtszeit (1999-2004) zu schnell und zu stark gewachsen sei, lässt Prodi nicht gelten.

"Es ist wahr, wir wollten fünf neue EU-Staaten innerhalb von zehn Jahren aufnehmen, aber wir haben zehn Staaten in fünf Jahren integriert", so Prodi. Es habe damals eine Umbruchstimmung geherrscht, viele ehemalige Sowjetstaaten hätten zu Europa tendiert. Man habe sie damals nicht fallenlassen können. Immerhin gibt Prodi, auch mehrmaliger Regierungschef in Italien, zu: "Wer hätte damals gedacht, dass ausgerechnet jene Länder, denen man am meisten unter die Arme griff – etwa Polen oder Ungarn -, sich nur wenige Jahre später einem 'Nationalismus pur' zuwenden würden?"

Ein Problem habe sich aber nicht geändert: "Ob neun oder 25 Staaten: Das Sorgenkind hieß immer Großbritannien." Dennoch zeigt sich Prodi überzeugt, dass das britische Referendum zugunsten der EU ausgehen und sich der Einigungsprozess in der EU danach beschleunigen wird.

Die aktuelle Angst vor Terrorismus auf europäischem Boden habe zu Verunsicherung geführt, meint Prodi. Ob sie auch zu einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums und zu Unruhen auf den Märkten führen wird, hänge davon ab, wie die EU mit dem Problem umgeht. "Ich plädiere für mehr Weisheit", rät er. Er sehe, dass das heutige Europa auf der Stelle trete. "Seit Jahren hat es keine Fortschritte mehr gegeben."

"Es fehlt an Staatsmännern"

Der Stillstand sei primär darin begründet, dass wirtschaftliche Reformen wie die Bankenunion kaum von politischen Reformen flankiert wurden. "Es fehlt an Staatsmännern, die die EU voranbringen und die nötigen politischen Reformen einleiten." Frankreich sei geschwächt, und Großbritannien habe mit den Referendumsplänen "Selbstmord" begangen. Daher sei die Führungsposition an Deutschland gefallen.

Prodi sieht momentan wenig Möglichkeiten, Europa voranzubringen: Es gebe weder eine einheitliche Außen- noch Verteidigungsstrategie, auch am Zustandekommen einer EU-Strategie gegen den Terrorismus hegt er Zweifel. Bevor über Interventionen gesprochen werden könne, müssen sich die EU-Partner – gemeinsam mit den USA – über das "Danach" einig werden. "Wir werden aus purer Höflichkeit an den Verhandlungstisch eingeladen."

Kritische Worte findet der studierte Nationalökonom auch in Sachen Wirtschaftskompetenz der Union: Dazu zählte der "Super-Euro", der im Vergleich zum chinesischen Yuan und zum US-Dollar zu stark aufgewertet worden sei. "Chinesen und Amerikaner haben unter dem Tisch verhandelt, um den Euro in eine Superposition zu zwingen." Erst EZB-Präsident Mario Draghi sei es gelungen, den Euro abzuwerten, um eine Parität zwischen dem Euro- und Dollarkurs zu erzielen.

"Warten auf Karl V."

Draghi habe der EU-Wirtschaft einen enormen Dienst erwiesen. "Wir bräuchten auch auf politischer Ebene einen Draghi", denn Europa sei wie Italien in der Renaissance: viele Stadtstaaten, die ihren eigenen Weg gehen. "Wir aber warten auf einen Karl V., der die Stadtstaaten vereinigt."

Ein Vorbild sieht Prodi, der in Schanghai unterrichtet, verblüffenderweise in China: Das Land werde seine Probleme, etwa die Korruption, schnell in den Griff bekommen. "Das Interesse der Studenten, ihr System zu ändern, ist dort größer als hier." (Thesy Kness-Bastaroli aus Bologna, 1.12.2015)