"Sie tut mir so leid – in der Nachzeichnung ihres Lebens spüre ich ihre Ängste, fühle ihre Verzweiflung, ihre Einsamkeit. Den Zweifel an sich selbst. Ihren Eindruck, alles im Leben falsch gemacht zu haben", schreibt Peter Stephan Jungk in seiner Edith-Tudor-Hart-Biografie. Das Bild zeigt die Fotografin im Jahr 1936.

Foto: S. Fischer

Peter Stephan Jungk, "Die Dunkelkammern der Edith Tudor-Hart. Geschichten eines Lebens." € 23,70 / 320 Seiten, S. Fischer, Frankfurt 2015.

Foto: S. Fischer

Am 1. März 2012 schrieb mir Wolf Suschitzky: "Samstag werde ich interviewt. Ein Verwandter – Sohn einer Kusine, der in Paris lebt – will ein Buch über meine Schwester schreiben und meine Erinnerungen aus mir saugen." Der legendäre Humor von Wolf – gefeierter Fotograf und Kameramann – blitzt auch immer wieder in seinen Briefen auf. Als jedoch durch die Nachforschungen von Peter Stephan Jungk zur Gewissheit wurde, dass Edith Tudor-Hart, Wolfs Schwester, Kommunistin war, für die Tass gearbeitet und für die Sowjetunion spioniert hatte, wurde ihm eng ums Herz.

Seine wiederholt geäußerte Meinung, die Verdächtigungen seien "Unsinn" und haltlos, sind schwarz auf weiß widerlegt. Nun liegt jenes Buch gelesen vor mir, und ich fühle mich wie betäubt von der Geschichte dieser tapferen Frau, die ihre Leidenschaft, das Fotografieren, aufgeben musste und verarmt früh verstarb. An Leberkrebs, einer Folge der jahrzehntelangen Einnahme des starken Schlafmittels Seconal, ohne das sie nicht mehr zur Ruhe kommen konnte.

Als Wolf Suschitzky am 15. Mai 1973 im Krematorium von Brighton die Totenrede hielt, sah er in seiner Schwester eine "bemerkenswerte Frau: fabelhaft intelligent und völlig unabhängig. Vielleicht verstand man nicht immer, was sie umtrieb, vielleicht war sie auch nicht die beste Zuhörerin, aber das lag daran, dass sie schon zwei Schritte weiter war als ihr Gegenüber. Edith hat nicht viel Glück gehabt in ihrem Leben. Einige Jahre nach dem Krieg erlitt sie einen Zusammenbruch und gab ihren Beruf auf, obwohl sie eine hervorragende Fotografin war."

Die Gründe dafür kannte er nicht; Edith hat über ihre Agententätigkeit, für die sie nie Geld gefordert oder erhalten hat, die daraus resultierenden Verhöre und zermürbenden Hausdurchsuchungen durch den britischen Geheimdienst MI5, denen sie bis zu ihrem Lebensende ausgesetzt war, nie gesprochen. Den Nervenzusammenbruch ausgelöst hatte die Durchsuchung ihrer Wohnung im November 1951, der eine weitere im Mai 1952 folgte.

Recherche beim KGB

An diesem Tag wurde ihr auch mitgeteilt, sie solle das Fotografieren sein lassen. In der Folge verbrachte sie drei Monate im West Park Hospital; mit 44 Jahren endete ein Abschnitt ihres Lebens. Berührt schließt man sich dem Biografen an, der mit seinem Mitgefühl an dieser Stelle nicht hinterm Berg hält: "Sie tut mir so leid – in der Nachzeichnung ihres Lebens spüre ich ihre Ängste, fühle ihre Verzweiflung, ihre Einsamkeit. Den Zweifel an sich selbst. Ihren Eindruck, alles im Leben falsch gemacht zu haben."

Jungk erzählt nicht als allwissender Biograf und nicht mit all den ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnissen. Er benützte Aufzeichnungen, die er lange zuvor getätigt hatte, so wie jene über Anna Mahler, als er sie in den 1980er-Jahren über Edith befragt hatte, in der Annahme, dass er diese vielleicht einmal brauchen könnte.

Der Leser wird mitgenommen zu den Recherchen, zu den Zeitzeugen und nicht zuletzt nach Moskau: Acht Jahre lang hat Jungk sich bemüht, Zugang zu den Akten im Moskauer Archiv des ehemaligen Geheimdienstes KGB zu erhalten – vergeblich. Er widmet diesen mal hoffnungsvollen, mal absurden, ja kafkaesken Nachforschungen und Begegnungen mit ehemaligen KGB-Leuten ein ganzes Kapitel, um am Ende jene Informationen als brandneu serviert zu bekommen, über die er ohnehin schon aus der Literatur über die Cambridge Five (Ein Spionagering des KGB im MI5, bestehend aus fünf am Trinity College, Cambridge, angeworbenen Männern; unter anderem Kim Philby, siehe unten; Anmerkung) Bescheid wusste.

Wer war diese Frau

Wer war nun diese Frau, deren Aussehen ein britischer Geheimdienstagent, der ihr 1942 in London nachspionierte, als "fremdländisch-jüdisch" beschrieb? Die von einem jungen Mann aus gutem Hause, Harold Adrian Russell, der als "Kim" Philby Geschichte schreiben sollte, das berühmte "Porträtfoto mit Pfeife" machte? Edith Suschitzky wurde am 28. August 1908 in Wien-Favoriten in der Petzvalgasse geboren. Ediths Eltern waren die gebürtige Adele Bauer und der sozialistische Buchhändler und Verleger Wilhelm Suschitzky, der mit seinem Bruder Philipp einen Buchladen in der Favoritenstraße betrieb.

Eigenwillig und belesen, verließ sie bereits mit siebzehn das erste Mal das Elternhaus, um sich in London zur Montessori-Pädagogin ausbilden zu lassen. In den folgenden Jahren arbeitete sie in Wiener und Londoner Kindergärten; Kinder bekamen später auch in ihren Fotoreportagen eine herausragende Bedeutung.

Nach dem ersten Liebeskummer – sie hatte in der väterlichen Buchhandlung den Kommunisten Arnold Deutsch kennengelernt – begann sie sich für Fotografie zu interessieren. Gegen den Willen ihrer Eltern studierte sie Fotografie am Bauhaus in Dessau. Nach Abschluss des Studiums ging sie wieder nach London, wurde 1927 Mitglied der Kommunistischen Partei, daraufhin von Scotland Yard überwacht und 1930 ausgewiesen. Anfang der 30er-Jahre entstand auch ein umfangreiches fotografisches Werk in Wien, das vor allem durch ihre journalistische Arbeit erhalten geblieben ist.

Edith Tudor-Harts Fotografie – sie fotografierte mit einer Mittelformatkamera – kann als Beitrag zum engagierten Realismus der Arbeiterfotografie gesehen werden, die durch die Dokumentation der Schattenseiten des Kapitalismus einerseits und durch Beiträge in Zeitschriften versuchte, eine den Bildwelten der bürgerlichen Presse gegensätzliche Kultur der Arbeiterselbstdarstellung zu propagieren. Nachdem sie 1933 wegen kommunistischer Spionagetätigkeit in Wien verhaftet worden war, ging sie mit ihrem englischen Ehemann Alexander Tudor-Hart, den sie 1933 geheiratet hatte, wieder nach London. 1934 schoss Edith im Regent's Park das berühmte Foto von Kim Philby, nachdem sie ihn zu Arnold Deutsch geführt hatte, der ihn für den sowjetischen Geheimdienst anwarb.

1936 kam ihrer beider Sohn Thomas zur Welt, der aufgrund seiner psychischen Krankheit zu einer schweren Belastung für Edith werden sollte. Alexander verließ die Familie, engagierte sich als Arzt im Spanischen Bürgerkrieg auf republikanischer Seite, ließ über ein Jahr nichts von sich hören und kehrte dermaßen traumatisiert zurück, dass die Ehe in die Brüche ging. Bis zum frühen Tod seiner Exfrau kümmerte er sich nicht mehr um ihren gemeinsamen Sohn.

In London, den Industrieregionen und Schiffswerften Nordenglands und den Kohlegruben von Südwales hatte Edith ihre fotografische Arbeit wiederaufgenommen, bis sie aufgrund ihrer Agententätigkeit beziehungsweise ihrer Hilfe für Rekrutierungen von Spionen für die Sowjetunion mehrmals verhört wurde und psychisch wie physisch in Bedrängnis kam. In einem Anfall von Panik verbrannte sie sämtliche in der Wohnung hinter einem Spiegel versteckten Fotos und Negative.

Wie viele Adressen hatte sie im Verlaufe ihres Lebens! In dem Jahrzehnt nach ihrem eingangs erwähnten Zusammenbruch Anfang der 50er-Jahre und nachdem sie Hals über Kopf die Wohnung in den Grove End Gardens verlassen hatte, war sie neunmal umgezogen. Als sie im Frühjahr 1962 ein winziges Haus in Brighton bezog, um fortan als Antiquitätenhändlerin zu leben, hatten Jahre des Umherirrens ein Ende.

Doch der Schein trog, auch hier holte sie die Vergangenheit ein. Nach der Enttarnung von Kim Philby, der nach Moskau flüchtete, wurde sie um fünf Uhr früh von Männern des Special Branch aufgesucht. Wieder einmal wurde ihre Wohnung auf den Kopf gestellt, Schreibtisch, Schränke, Kommoden und Bücherregale untersucht und durchwühlt. Sie wurden nicht fündig; all das, was von ihrem Beruf als Fotografin zeugte, hatte sie längst ihrem Bruder Wolf übergeben (ihr Nachlass, an die 5.000 Negative, befindet sich nun in einem Archiv der National Galleries of Scotland in Edinburgh).

Als Edith sie zur Rede stellte und wissen wollte, mit welchem Recht sie an einem Wintermorgen so früh behelligt werde, sagten ihr die Männer, es sei eine Routineüberprüfung. Möglicherweise dachten sie, Kim könnte sich bei ihr versteckt halten, denn zu dieser Zeit wussten MI5 und MI6 noch nicht, wohin er sich abgesetzt hatte.

Das letzte von ihr aufgenommene und mir bekannte Foto von Edith stammt aus dem Jahr 1957. Es zeigt einen schnauzbärtigen, Zigaretten rauchenden Zeitungsverkäufer en face; er sitzt auf einer Holzkiste vor einer Auslage, dahinter bequeme, gepolsterte (!) Stühle, und das Glas gibt als matter Spiegel die Fotografin wieder. Sie trägt eine helle Bluse und blickt von oben auf den Sucher ihrer Rolleiflex, die sie mit beiden Armen in der Höhe zwischen Brust und Bauch fixiert, um dann auf den Auslöser zu drücken.

Beste Motive

Ihr Bruder Wolf gab im Jahre 1986 ein schmales Buch mit einer Auswahl ihrer Fotografien heraus, das längst vergriffen ist. Titel: "Das Auge des Gewissens". Eine treffende Einschätzung der Arbeit seiner Schwester als Fotografin.

Aber wie konnte sie, vor allem in den späteren Jahren, da die Verbrechen Stalins längst bekannt waren, noch immer Kommunistin sein? Dies mit ihrem Gewissen vereinbaren? – Im Zuge seiner Recherchen trifft Jungk auf Vermittlung von Wolfs Sohn Peter Suschitzky, Kameramann von David Cronenberg, mit dem einstigen, 1922 in Berlin geborenen Fotografen und späteren Erfinder radiosynchronisierter Uhren, Herbert Freudenheim, zusammen.

Er kannte Edith sehr gut, und im Verlaufe des Gesprächs äußert er sich folgendermaßen: "Willst du Edith an den Pranger stellen? Wir wollten den Faschismus besiegen, Edith hat aus edelsten Beweggründen für den Sieg des Kommunismus gekämpft. (...) Die Kommunisten waren doch die Einzigen, die erhobenen Hauptes gegen die Nazis einschritten, die Einzigen, die nicht kuschten. Wir hatten die besten Motive. Und natürlich – man ließ sich leicht verführen. Aber verstehe doch bitte: Es gab keine Alternative. Wir waren die 'génération perdue' ..."

Spät, aber doch kehrte eine Auswahl ihrer Fotos in ihre Geburtsstadt zurück. Die Schau, die schon in Edinburgh gezeigt wurde, trug den Titel "Im Schatten der Diktaturen". Als Ediths Bruder Wolf Suschitzky, der eben seinen 101. Geburtstag gefeiert hatte, am Abend des 25. September 2013 anlässlich der Eröffnung der Schau das Rednerpult im Wien-Museum betrat, hätte man eine Stecknadel fallen hören: "Wie traurig, dass Edith das nicht mehr erleben konnte. Aber was heute hier geschieht, ist so etwas wie ein Homecoming für meine Schwester."

Er beendete seine kurze Rede mit den Worten: "Sie war es, die mich zur Fotografie überredete, mehr noch ... verführte. Und sie war es, die mich und unsere Mutter gerettet hat, indem sie uns nach England brachte." (Richard Wall, Album, 12.12.2015)