Foto: Gay Talese

Frank Sinatra bei Proben zu einem Konzert für US-Präsident John F. Kenney 1961.

Foto: Phil Stern Estate, Courtesy of the Fahey/Klein Gallery, Los Angele

Vorbereitungen für ein Konzert 1961.

Foto: Phil Stern Estate, Courtesy of the Fahey/Klein Gallery, Los Angele
Foto: Gay Talese

Sinatra während einer Drehpause in Los Angeles 1955.

Foto: Phil Stern Estate, Courtesy of the Fahey/Klein Gallery, Los Angele

Nach einem Beinahezusammenstoß mit James Dean springt Phil Stem auf sein Motorrad am Sunset Boulevard in Los Angeles.

Obwohl er Orchester dirigierte, lernte Sinatra nie, Noten zu lesen.

Foto: Phil Stern Estate, Courtesy of the Fahey/Klein Gallery, Los Angele

Sinatra im Washingtoner Hilton 1961.

Foto: Phil Stern Estate, Courtesy of the Fahey/Klein Gallery, Los Angele

Blick aus dem Büro von Samuel Goldwyn, Sinatra winkt auf den Straßen von Culber City.

Foto: Phil Stern Estate, Courtesy of the Fahey/Klein Gallery, Los Angele

Gay Talese.

Foto: Jeremiah Wilson
Foto: Phil Stern Estate, Courtesy of the Fahey/Klein Gallery, Los Angele

Frank Sinatra mit Dean Martin und Sammy Davis jr. in einem Aufnahmestudio in Hollywood 1962.

Foto: Phil Stern Estate, Courtesy of the Fahey/Klein Gallery, Los Angele
Foto: Phil Stern Estate, Courtesy of the Fahey/Klein Gallery, Los Angeles

Vor 50 Jahren, im Herbst 1965, flog der Reporter Gay Talese nach Los Angeles. Er sollte einen Sänger interviewen, der damals, nach frühem Ruhm und einem Karriereknick, auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn stand. Der Termin wurde mehrmals verschoben, und nach fast drei Monaten kehrte er schließlich nach New York zurück.

Talese schrieb dann einen 55 Seiten langen Text, ohne je ein Wort mit dem Sänger gewechselt zu haben. Doch das Ergebnis, "Frank Sinatra Has a Cold", im Magazin "Esquire" erschienen, war augenblicklich eine Sensation.

Es läutete eine ganze Generation literarischer Reportagen ein. 2003 bezeichneten es die Chefredakteure des Magazins rückblickend als die beste Geschichte, die sie je gedruckt hatten. Eine Liste der hervorragendsten englischsprachigen Zeitschriftenartikel wird ebenfalls von Taleses Porträt angeführt. Für Tom Wolfe begann mit dieser und anderen Storys seines Kollegen die hohe Zeit des "New Journalism". (Ein großes Lob von einem, der oft selber als Vater dieses Genres bezeichnet wird; Talese ist, wie wir sehen werden, darüber nur teilweise froh.)

Gay Talese leitete mit seiner Reportage das Zeitalter des "New Journalism" ein.
Foto: Jeremiah Wilson

Und Benedikt Taschen, der Chef des gleichnamigen Verlags und ebenfalls ein Fan von Talese, dachte sich eine besondere Ehrung anlässlich der 50. Wiederkehr der Reportage und des 100. Geburtstags ihres Sujets aus: eine limitierte Luxusausgabe, mit Faksimiles von Taleses Notizen und Fotos von Phil Stern, der Sinatra über viele Jahre begleitet hatte, signiert vom mittlerweile 83-jährigen Autor und ergänzt durch seine Erinnerungen. Selten schaffte es ein für den Augenblick und über vergänglichen Ruhm verfasster Text zu solchen rückwirkenden Ehren.

Tätiges Warten

Das Besondere an Taleses Text über den Sänger ist weniger, dass er ihm nicht persönlich begegnen konnte, sondern wie er diesen widrigen Umstand nutzte. Kaum war er in L.A. gelandet, informierte ihn das Büro Sinatras, dass der Chef erstens erkältet und zweitens sowieso nicht gut auf die Presse zu sprechen sei, weil sie gerade begann, seinen Beziehungen zur Mafia nachzugehen. Mr. Talese möge also warten.

Sinatra albert mit Lewis Milestone (Regisseur von "Ocean's Eleven") und Billy Wilder (mit Brille) in den MGM Studios.
Foto: Phil Stern Estate, Courtesy of the Fahey/Klein Gallery, Los Angele

Er wartete, doch er blieb nicht untätig. Die folgenden Wochen verbrachte Talese mit der Entourage, die Sinatra in Schichten umgab und abschirmte. Er fuhr mit zu einer aufwendigen Studio-Session, die wegen der Erkältung abgebrochen werden musste. Er flog mit nach Las Vegas zum Boxkampf zwischen (damals noch) Cassius Clay und Floyd Patterson und zu Trink- und Spielgelagen, die bis acht Uhr morgens dauerten. Er saß am Rand bei Filmaufnahmen mit Sinatra und Virna Lisi ("Assault on a Queen"). Er saß aber auch am Telefon oder in Cafés und sprach mit vielen Leuten aus Sinatras beruflicher und privater Umgebung, mit dessen Kindern aus erster Ehe, mit der Mutter in New Jersey, mit Begeisterten und Enttäuschten.

Es sei die Kunst gewesen, sagt er, "herumzulungern und genau zuzuhören – the fine art of hanging around". Vor allem beobachtete er Situationen, die den Star im Zwiespalt zwischen Ruhm und dem Bedürfnis nach Privatheit, zwischen Großzügigkeit und Aggressivität zeigten. Dadurch konnte er, wie er sagt, mehr über das Wesen der widersprüchlichen Person erfahren, als wenn er eines jener Celebrity-Interviews gemacht hätte, bei denen man nichts Neues hört und Stehsätze serviert bekommt.

Stattdessen beschrieb er "Frank Sinatra, ein Glas Bourbon Whiskey in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand," wie er in einer dunklen Ecke einer Bar stand, zwei Blondinen an seiner Seite, "die darauf warteten, dass er etwas sagte. Er sagte aber nichts …" – so der Beginn des Artikel in seiner deutschen Übersetzung (2009 erschienen). Es folgt ein dichtes Geflecht, ein Substrat seiner mehr als 200 Seiten Notizen, mit Szenenwechseln, kulturellen Bezügen, Rückblenden bis zu den Vorfahren in Sizilien – ein Wechselbad von präzisen Details und weitschweifenden Metaphern ("Sinatra mit Schnupfen ist wie Picasso ohne Farbe, Ferrari ohne Sprit …"). Es endet mit einer Autofahrt in L.A., Sinatra am Steuer, die Ampel ist auf rot, eine Passantin scheint ihn zu erkennen: Ist er es wirklich? Nächste Woche, am 12. Dezember, denkt er, wird er 50.

Ein erster Vorschlag für den Text "Frank Sinatra Has a Cold" – inklusive Tipp- und Rechtschreibfehlern und Notizen.
Foto: Gay Talese

Gay Talese hatte ab 1953 fast zehn Jahre lang für die "New York Times" geschrieben, er spricht bis heute mit Hochachtung von den hohen Standards, die dort herrschten. Doch der Wunsch, mehr als nur das Nötige zu berichten, trieb ihn zum "Esquire", in jenen Jahren ein Experimentierfeld für Journalisten. Wenn sie ihren Storys psychologische Tiefe, innere Monologe oder literarische Freiheiten verleihen, aber dennoch der Non-Fiction treu bleiben wollten, dann waren sie beim "Esquire" oder im Magazin "New York", der Wochenendausgabe der "Herald Tribune", bald auch im "Rolling Stone" willkommen.

Und so kamen sie, Jimmy Breslin, Norman Mailer, Joe Eszterhas, Hunter S. Thompson, Robert Christgau und wie sie alle hießen und vor allem Tom Wolfe, der einige Jahre später dem Phänomen das Etikett "New Journalism" verlieh und Talese als dessen Pionier bezeichnete.

Kostspielige Faktentreue

Wolfe war und ist der Auffallendere, der größer Auftretende der beiden (das englische Wort "flamboyant" ist schwer übersetzbar). Er nimmt sich mehr Freiheiten in der Literarisierung seiner Sujets, er neigt eher zu Übertreibungen. Während Talese eine Zuschauerreaktion in einem Boxkampf lautmalerisch so beschreibt: ",Mummm' (sock), ,Mummm' (sock)", heißt es bei Wolfe schon im Titel "There Goes (Varoom! Varoom!) That Kandy-Kolored (Thphhhhhh!) Tangerine-Flake Streamline Baby (Rahghhh!) Around the Bend (Brummmmmmmmmmmmmmmm)".

Talese ist zurückhaltender. Wenn ihm die Rolle des Pioniers auch schmeichelt, so distanziert er sich doch von vielen Nachfolgern, die unter dem Etikett des New Journalism Texte publizieren, die ihm zufolge schlicht schlampig sind (womit er nicht Tom Wolfe meint; die beiden sind seit Jahrzehnten gut befreundet, das Sinatra-Buch stellte Wolfe einem kleinen Kreis im New Yorker Club 21 vor). Wer es mit der Wahrheit nicht genau nimmt, sagt er, der solle keine Reportagen schreiben. Stolz ist er auf seine "Faktentreue und Akkuratesse, auch wenn sie zeitraubend und kostspielig sein mögen".

Szenen aus dem Leben von Frank Sinatra. Gay Talese schrieb über den legendären Entertainer, ohne ein einziges Mal ein Interview mit ihm zu bekommen.
Foto: Phil Stern Estate, Courtesy of the Fahey/Klein Gallery, Los Angeles

Angehenden Journalisten empfiehlt er, sich nicht von den Hiobsbotschaften über die Medienbranche beirren zu lassen. Allerdings, fügt er hinzu, habe sich die Atmosphäre in den Vereinigten Staaten seit 9/11 sehr verschlechtert. Die Medien seien affirmativer geworden, eingeschüchtert durch das Terrorismus-Argument, statt sich kritisch mit dem eigenen Land auseinanderzusetzen: "Warum fragt niemand nach, wieso Guantanamo noch immer nicht geschlossen wurde, obwohl Obama das vor acht Jahren versprochen hat?"

Man kann sagen, dass Talese Glück gehabt hat, in einer Ära als Reporter groß geworden zu sein, in der Magazingeschichten gut bezahlt wurden. Fast 5.000 Dollar Spesen hat er nach eigenen Angaben während der monatelangen Sinatra-Recherche gehabt, das wären heute mehr als 35.000, davon können Reporter auch in den USA nur mehr träumen.

Aufgebaut wie ein Bühnendrama: Ein erster Vorschlag für die Struktur des Textes "Frank Sinatra has a Cold".
Foto: Gay Talese

Er hat dem Glück aber auch nachgeholfen. Selbstbewusst stellte er sich Aufgaben, die aufwendig waren und entsprechenden Ruhm einbrachten. Sein erstes Buch, 1969, über die "New York Times", war 600 Seiten lang und stand ein halbes Jahr lang auf der Bestsellerliste. Für sein zweites, "Honor Thy Father" (1971), quartierte er sich mehrere Wochen lang bei einer der berüchtigten New Yorker Mafia-Familien ein. Es sei ihm ein Vergnügen gewesen, erzählte er mir strahlend, einen Dollar mehr Vorschuss bekommen zu haben als Mario Puzo für seinen "Godfather".

Für eine Chronik seiner Familie verbrachte er mit seiner Frau Nan, Cheflektorin beim Verlag Doubleday, mehrere Wochen in Taormina – unweit von Catania übrigens, von wo die Sinatras herkommen. Von dort aus recherchierte er mithilfe von Assistenten in Archiven in Kalabrien, der Heimat seiner Vorfahren. Ich konnte ihn auch dabei beobachten, wie er in seinem Kellerbüro, im Brownstone der Taleses auf Manhattans East Side, eine breite Wand voller angehefteter Merkzettel ordnete und in Kisten voll mit Dokumenten nach einem weiteren Puzzleteil für sein Buch suchte.

Das Ergebnis, "Unto the Sons" (1992; deutsch: "Von den Vätern auf die Söhne"), ein weiterer Bestseller, war entsprechend voll minutiös geschilderter Einzelheiten aus dem Leben von vier Talese-Generationen. Der ansonsten wohlwollenden Kritik in der "Times" ist dies aufgestoßen. Ihn zu lesen sei, als würde man jemanden fragen, wie spät es ist, und man bekommt als Antwort die Geschichte der Schweiz erzählt.

Alles oder nichts

Man merkt dem fast 700 Seiten langen Buch an, dass Taleses Herzblut drinsteckt. So liebevoll erinnert er sich an seine Mutter Catherine, geborene DePaolo, die ihm vorgemacht hat, wie man gut zuhört und sich die nebensächlichsten Dinge merken kann. So genau beschreibt er die Fertigkeiten seines Vaters in Ocean Beach, New Jersey und seines Cousins Antonio Cristiani in Paris, die beide Schneider waren und ihr Handwerk als Kunst betrieben. (Das erklärt im Übrigen auch seine gediegenen Maßanzüge. Tom Wolfe mag der bekanntere Autor in meist cremefarbenen Dreiteilern sein, allein Talese ist der elegantere. Und ohne seinen keck schief aufgesetzten Fedora würde er nicht das Haus verlassen.)

Die Familienchronik macht eine Spur deutlich, die in vielen anderen von Taleses Texten ebenfalls angelegt ist. Immer wieder hat er sich mit italo-amerikanischen Schicksalen beschäftigt und identifiziert. Ob der berüchtigte Mafia-Clan der Bonannos oder die Einsamkeit von Baseball-Star Joe DiMaggio, ob das Ende seines neapolitanischen Lieblingsrestaurants Gino auf der Lexington Avenue oder die erotischen Eskapaden einer Familie Bullaro in seinem Buch über die US-Sexualmoral ("Thy Neighbor's Wife", 1981; deutsch: "Du sollst begehren", als Taschenbuch leider unter "Der Talese-Report"), von allen Seiten kommt er auf das Thema, sein Thema zurück: wie man es als compaesano in der Neuen Welt schafft. Oder nicht.

Das gilt natürlich auch und erst recht für Francis Albert Sinatra, Sohn von Martin Sinatra, dem Boxer, der im New York der Zwischenkriegszeit als "Marty O'Brien" kämpfen musste, weil die tonangebenden Iren das so wollten. Nicht der Star interessierte ihn, wiederholt der nach seinem Großvater Gaetano benannte Gay Talese, sondern seine Existenz zwischen Erfolg und Niederlage.

Da ist Frankie, der herrscht wie un padrone in der alten Heimat, der Gefälligkeiten verteilt und alles persönlich nimmt, weil er es so gewohnt ist und es sich leisten kann. Aber da ist auch der misstrauische Einzelgänger, der schon einmal aus dem Show-Geschäft abdanken musste und nicht weiß, wann es wieder passieren könnte.

All or nothing at all, wie Talese zitiert. Es ist, abseits des Ol'-Blue-Eyes-Kitsches, die Geschichte eines fragilen Traums, die Talese aufbereitet hat wie ein Bühnendrama. Nur besser noch: Es hat sich so ereignet. (Michael Freund, 13.12.2015)