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"Die Menschen wollen nach vorne schauen. Sie kommen, um ihr Leben in die Hand zu nehmen, doch die Unsicherheit nimmt kein Ende", sagt Marion Kremla, die in der Asylkoordination Österreich für die Psychotherapiezentren zuständig ist.

Foto: Reuters / Edward Echwalu

Innsbruck/Wien – Flucht hinterlässt auch Spuren in der Psyche. Jeder zweite Flüchtling und jedes dritte Kind sei psychisch krank, sagt der Präsident der deutschen Psychotherapeutenkammer. "Zumindest potenziell", schränkt Marion Kremla ein, die in der Asylkoordination Österreich für die Psychotherapiezentren zuständig ist. Fest stehe jedenfalls: "Das Thema wird noch viel zu wenig ernst genommen."

Österreichweit gibt es derzeit zehn Zentren für interkulturelle Psychotherapie – in jedem Bundesland eines und zwei in Wien. Dort wird gemeinsam mit Dolmetschern "traumaspezifische und kultursensible" Therapiearbeit angeboten. Für rund 30.000 neu ankommende Flüchtlinge seien dort Anfang des Jahres die Mittel veranschlagt, doch bis jetzt nicht aufgestockt worden. "Schon für diese Zahl an Menschen hätten unsere Kapazitäten kaum gereicht", sagt Kremla. Angesichts der aktuellen Situation komme man nun gar nicht mehr zurande.

Chronische Angst ist Alltag

Die psychische Odyssee der Flüchtenden beginnt oft schon vor Antritt der Reise: "Für Menschen in Kriegs- und Krisengebieten ist chronische Angst der Alltag", sagt Verena Berger-Kolb, Vorsitzende des Tiroler Landesverbands für Psychotherapie. "Sie sind über lange Zeit von Unterdrückung, Vertreibung, Hunger, Folter oder akuter Lebensgefahr bedroht." Danach setze sich die Traumatisierung auf der Flucht fort.

In den österreichischen Therapiezentren, sagt Kremla, sei das Hauptthema in den Sitzungen jedoch die aktuelle Situation der Betroffenen: "Wir helfen vorrangig beim Aushalten der Lebensumstände hier." Die meisten Flüchtlinge würden im Glauben ankommen, dass sie nach zwei Monaten anerkannt werden und dann ihre Familien nachholen können. Die Realität sehe dann plötzlich ganz anders aus.

Ausgang ungewiss

Besonders belastend sei die Situation für Flüchtlinge, die nicht aus Syrien oder Afghanistan kommen, da sich deren Verfahren besonders lange ziehen und der Ausgang bis zuletzt ungewiss bleibe.

"Die Menschen wollen nach vorne schauen. Sie kommen, um ihr Leben in die Hand zu nehmen, doch die Unsicherheit nimmt kein Ende", sagt Kremla. Sie hätte natürlich gerne mehr Geld für ihre Psychotherapiezentren zur Verfügung, die "Lösung erster Ordnung" müsse jedoch eine andere sein: "Hätten wir schnellere und menschenwürdige Asylverfahren, gäbe es ausreichend Deutschkurse und würde man Asylwerbern Zugang zum Arbeitsmarkt gewähren, könnten wir uns die Kosten vieler Therapiestunden sparen."

Albträume, Angstzustände, Suizidgefahr

Auch die Psychotherapeutin Berger-Kolb warnt vor den Folgen einer "fortgesetzten Traumatisierung", wenn Flüchtlinge nicht behandelt werden. Allein in Tirol warten derzeit rund 5100 Menschen auf eine Entscheidung im Asylverfahren. Für Kinder und Jugendliche würden die Therapiemöglichkeiten "fast gänzlich" fehlen. Traumata könnten aber auch "erst nach Jahrzehnten" wieder hochkommen, wenn die Erlebnisse verdrängt werden.

"Wir wissen genau, wie wichtig eine frühzeitige psychotherapeutische Behandlung ist. Nach Unfällen steht auch sofort ein Kriseninterventionsteam bereit", sagt Berger-Kolb. Würde ein Trauma nicht behandelt, könne das eine posttraumatische Belastungsstörung, Albträume, Angstzustände und sämtliche körperliche Erkrankungen auslösen – "bis hin zur Suizidgefahr".

Dolmetscher zur Verständigung

Es gehe in dieser Debatte auch ganz generell um "barrierefreien Zugang zum Gesundheitssystem", sagt Gabriele Mantl, Leiterin des Zentrums für interkulturelle Psychotherapie in Tirol. Dieser sei häufig nämlich nur durch Dolmetscher sichergestellt, die Arzt und Patient die Verständigung ermöglichen. "Doch für diese Kosten fühlen sich weder die Kassen noch sonst jemand zuständig." (Katharina Mittelstaedt, 15.12.2015)