Die Gewalt im kurdischen Südosten ist längst auf Istanbul übergeschwappt: Im Gazi-Viertel im Westen der Millionenstadt wurde bei Krawallen Dienstagnacht ein bewaffneter junger Mann fotografiert. Kurden protestierten dort in den Straßen gegen die Ausgangssperren im Südosten.

Foto: AFP/Cagdas Erdogan

Ankara – Als der türkische Regierungschef vor zwei Jahren den Flughafen in der ärmlichen Grenzprovinz Sirnak eröffnete, tief im mehrheitlich kurdischen Südosten des Landes, da sprach er vom Friedensprozess, von Demokratie und seiner Entschlossenheit, zu einer Lösung der Kurdenfrage zu kommen. Am Mittwoch flog am zweiten Tag in Folge keine Maschine der Turkish Airlines mehr nach Sirnak: Am Boden rollen die Panzer, in den Städten der Region ist faktisch Krieg.

Stadtviertel um Stadtviertel, Straße für Straße werde von den Terroristen "gesäubert", verkündete Ahmet Davutoglu im türkischen Fernsehen. Der Regierungschef gibt nun mehrmals in der Woche Interviews. Einmal geht es um Russlands Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei, das andere Mal um die türkischen Soldaten im Irak, die Bagdad angeblich nicht haben wollte; dann wieder um den Neubeginn in den Beitrittsverhandlungen mit der EU und das visafreie Reisen der Türken.

Kriegerisches Szenario

Der Bürgerkrieg im Südosten des Landes aber ist ein Szenario, das nun rasch Konturen gewinnt. Seit dem Sommer verhängen Provinzgouverneure und Armee immer wieder tagelange Ausgangssperren in den kurdischen Städten. Kommandos der Gendarmerie, die der türkischen Armee zugeordnet ist, und Sondereinheiten der Polizei durchkämmen dann Straßen und feuern auf Wassertanks und Stromanlagen, während sich die Bevölkerung in Wohnungen und Kellern verbirgt.

Das Ziel der türkischen Sicherheitskräfte sind bewaffnete Jugendliche, die mit der kurdischen Untergrundarmee PKK sympathisieren oder deren Jugendbewegung YDG-H angehören. Doch vier Monate Strafexpeditionen in die Städte scheinen die jungen Kurden und die PKK bloß bereiter zur Gewalt gemacht zu haben.

Eine Textnachricht des türkischen Bildungsministeriums in Ankara am vergangenen Wochenende war als Signal für den Beginn einer großen Militäroffensive verstanden worden. Tausende von Lehrern waren angewiesen worden, nach Hause zu fahren; wie in anderen zentralistisch verwalteten Staaten werden Lehrkräfte in der Türkei auf Zeit in verschiedene Landesteile abgeordnet. Über die Schüler und über die Gefahren, denen diese mutmaßlich ausgesetzt sind, wurde hingegen nichts verlautbart.

Autobusse in Cizre, Sirnak, Nusaybin und vielen anderen Städten im Südosten sind seither ausgebucht, berichten Reisende. Türkische Medien veröffentlichten am Mittwoch Zahlen von Flüchtlingen aus den Kurdengebieten, die zeigen, welches Ausmaß Terror und Militäroperationen angenommen haben: 200.000 Menschen sollen es nach Angaben der regierungskritischen Tageszeitung "Zaman" seit dem Sommer sein; 300.000 meldete gar das Regierungsblatt "Sabah".

Bewohner flüchten

30.000 Bewohner hätten demnach allein Silopi an der türkisch-irakischen Grenze verlassen; ebenso viele Sur, einen Innenstadtbezirk von Diyarbakir, wo Ende November der kurdische Bürgerrechtler und Präsident der Anwältekammer Tahir Elci nach einer Presseerklärung auf der Straße erschossen worden war – vermutlich getroffen von einer Polizeikugel, wie ein neues Video nahelegt. Seit den 1990er-Jahren, als die Armee im Kampf gegen die PKK kurdische Dörfer niederbrannte und Jitem, eine Geheimabteilung der Gendarmerie, aktiv war, gab es keine solchen Fluchtbewegungen mehr.

Der Krieg im Südosten ist auch für die türkischen Journalisten spürbar: Ein Strafgericht in Gaziantep ordnete die Konfiszierung von Büchern des renommierten Publizisten Hasan Cemal an, eines Enkels des Jungtürken-Generals Cemal Pascha. Bücher von Hasan Cemal wie die von Tugçe Tatari, einer anderen Journalistin, waren bei mutmaßlichen PKK-Sympathisanten gefunden worden. (Markus Bernath, 16.12.2015)