Die Nase rinnt, der Kopf dröhnt, die Glieder schmerzen – und man fährt trotzdem ins Büro. Fachleute nennen das Phänomen "Präsentismus".

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Mindestens jeder Dritte geht hierzulande krank in die Arbeit, wie Umfragen der Arbeiterkammer Oberösterreich zeigen. Für dieses Phänomen gibt es einen Begriff, "Präsentismus" (von Präsenz = Anwesenheit), seit einigen Jahren wird es intensiv beforscht.

So etwa von Mariella Miraglia, einer Wissenschafterin der University of East Anglia in Großbritannien, die untersuchte, warum Menschen sich krank ins Büro schleppen – und dafür gemeinsam mit ihren Kollegen Daten von mehr als 175.000 Arbeitnehmern in 34 Ländern auswertete.

"Wir konnten zeigen, dass Präsentismus mit Stress zusammenhängt", sagt Miraglia über die Ergebnisse. "Gefördert wird er durch hohe Anforderungen, straffe Deadlines, zu wenig Personal für die Arbeit, die getan werden muss. Diese Rahmenbedingungen verlangen, dass jemand krank arbeitet, damit sich alles ausgeht." Eine Rolle dürfte auch die Angst um den Arbeitsplatz spielen, die bei vielen durch die Wirtschaftskrise gestiegen ist: "Wer um seinen Job fürchtet, geht eher krank ins Büro, wie wir feststellen konnten. Besonders negativ wirken sich befristete Verträge aus", so die Wissenschafterin.

Auch Motivierte betroffen

Ein weiterer Katalysator ist ihrer Studie zufolge eine strenge Abwesenheitspolitik in Unternehmen. "Wenn Mitarbeiter für jedes Fernbleiben einen medizinischen Nachweis erbringen sollen." Ebenso Mobbing am Arbeitsplatz: "Menschen, die das betrifft, sind meist in Positionen, in denen sie über nicht viel Macht verfügen, und meinen folglich, täglich ins Büro kommen zu müssen."

Aber auch vermeintlich positive Faktoren dürften Präsentismus zutage fördern. "Personen, die sehr zufrieden mit ihrem Beruf sind und dort hohes Engagement zeigen, wollen möglichst viel Zeit und Energie dafür aufwenden – selbst wenn sie krank sind", erklärt Miraglia.

Für den Einzelnen ist Präsentismus aber gefährlich, "er zermürbt auf längere Frist", sagt Erich Pospischil, Ärztlicher Leiter des Arbeits- und Sozialmedizinischen Zentrums (AMZ) Mödling. Pospischil beruft sich dabei auf eine Studie der Johannes-Kepler-Uni und der Fachhochschule Krems aus dem Jahr 2013. Krank zur Arbeit zu gehen sei demnach eine "Zeitbombe", was den Betroffenen vielfach nicht bewusst wäre. "Harmlose Krankheiten können schnell zu chronischen Erkrankungen werden und so zu längeren Ausfällen führen."

Schlecht für das BIP

Daher profitiert letztendlich auch die Firma nicht davon, wenn Mitarbeiter krank ins Büro kommen, selbst wenn es zunächst paradox klingen mag. Die Unternehmensberatung Booz & Company hat 2011 im Auftrag der deutschen Felix-Burda-Stiftung die durch Präsentismus entstehenden Kosten geschätzt: auf rund 2400 Euro pro Jahr und Mitarbeiter. Die durch Fehlzeiten entstehenden Kosten belaufen sich demgegenüber auf rund 1200 Euro – also die Hälfte.

Präsentismus ist schließlich nicht nur für den Einzelnen und die Firma schlecht – sondern auch ein "ernstzunehmendes Problem" für die Volkswirtschaft als Ganzes, wie die Schweizer Wissenschafter Fred Henneberger und Michael Gämperli vom Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitsrecht an der Universität St. Gallen in einem Paper zu dem Thema schreiben. Zu diesem Ergebnis kam auch Booz & Company: Insgesamt schmälern Arbeitnehmer, die nicht völlig wiederhergestellt zur Arbeit gehen, das Bruttoinlandsprodukt offenbar um fast ein Zehntel (neun Prozent) pro Jahr.

Was Arbeitgeber tun können, um Präsentismus in ihrem Unternehmen entgegenzuwirken? "Sie müssen Gesundheitschecks einführen und Stressmanagementprogramme schaffen", sagt Miraglia. "Vor allem müssen sie aber auch Strukturen beseitigen, die Präsentismus fördern".

Eine andere mögliche Maßnahme seien flexible Arbeitszeitmodelle. "Damit würden Arbeitnehmer im Falle einer Erkältung vielleicht zu Hause arbeiten, anstatt sich ins Büro zu schleppen."

Krankheiten aufspüren

Pospischil rät zum Einsatz von Befragungsinstrumenten, die in wenigen Minuten erfassen können, ob Mitarbeiter ausreichend fit für die Arbeit sind, wie etwa den Health and Work Performance Questionnaire (HPQ), den Work Limitations Questionnaire (WLQ) oder das Work and Health Interview (WHI). Dabei werden Mitarbeiter beispielsweise gefragt, ob es ihnen in der letzten Zeit schwer- oder leichtgefallen ist, unterschiedliche Tätigkeiten auszuführen. Die Ergebnisse sollen ein Bild über den Gesundheitszustand des Mitarbeiters abgeben. (Lisa Breit, 5.1.2015)