In Saudi-Arabien würden Frauen "von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod wie Unmündige behandelt", sagt Ensaf Haidar.

foto: robert newald

Zum zweiten Mal binnen zweier Monate war Ensaf Haidar, Ehefrau des prominenten saudi-arabischen Intellektuellen und Bloggers Raif Badawi, in Wien. Am Freitag nahm sie an der 50. Mahnwache der Grünen vor dem König-Abdullah-Zentrum für interreligiösen und interkulturellen Dialog (KAICIID) teil, das auf Initiative Saudi-Arabiens gegründet worden war. Dass sich Österreich neben Spanien über weite Strecken an dem Zentrum beteiligt, wurde bereits von mehreren Seiten scharf kritisiert.

Die Mahnwachen sollen dazu beitragen, den Druck auf Saudi-Arabien zu erhöhen, um Badawi zu enthaften und seiner Frau und den drei Kindern nach Kanada folgen zu lassen, die dort politisches Asyl erhalten haben. Der 31-jährige Badawi ist seit 2012 inhaftiert, wegen Abfalls vom Islam – in seinen Blogeinträgen betonte er unter anderem die Gleichwertigkeit aller Religionen – wurde er zu zehn Jahren Haft, tausend Peitschenhieben und umgerechnet 194.000 Euro Geldstrafe verurteilt. 50 Peitschenhiebe hat er bereits erhalten.

Die 36-jährige Ensaf Haidar setzt sich seit Jahren ohne Unterlass für ihren Mann ein. Vergangenen Dienstag nahm sie in Straßburg stellvertretend für ihn den Sacharow-Preis "für geistige Freiheit" des Europaparlaments entgegen: eine weitere internationale Auszeichnung für Badawi, der sich zuletzt eine Woche im Hungerstreik befunden haben soll.

STANDARD: Mit dem Hungerstreik dürfte sich die Lage Ihres Mannes weiter zugespitzt haben. Wissen Sie, wie es ihm geht?

Haidar: Raif wurde kürzlich in ein neues Gefängnis gebracht. Wie dort die Bedingungen sind, weiß ich ehrlich gesagt nicht, denn seit seiner Verlegung bin ich in seiner Sache auf Reisen. Ich hatte seither keine Möglichkeit, mit ihm zu telefonieren, wie ich es sonst immer wieder kann.

STANDARD: Was hat Ihr Mann in früheren Telefonaten über seine Haftbedingungen erzählt?

Haidar: Wenig, weil er am Telefon nicht viel über seinen Zustand sagt. Stattdessen fragt er mich, wie es den Kindern geht, sagt, dass er mich und die Kinder vermisst – und dass er Sorge um sie hat, weil sie so früh die Heimat verlassen mussten. Ich glaube, er will mir nichts Zusätzliches aufbürden. Wie es ihm wirklich geht, kann ich nur aus dem Ton seiner Stimme ableiten – demnach glaube ich, dass es ihm überhaupt nicht gutgeht.

STANDARD: Ist Badawi derzeit rechtlich vertreten? Sein früherer Anwalt wurde ja selbst zu 15 Jahren Haft verurteilt – unter anderem wegen "Ungehorsams gegenüber dem Herrscher und dem Versuch, dessen Legitimität zu untergraben".

Haidar: Nein, Raif hat in Saudi-Arabien jetzt keine rechtliche Vertretung mehr. Doch ein Anwalt spielt dort in Gerichtsverfahren ohnehin keine wichtige Rolle, denn es entscheidet letztlich nicht das Gesetz, sondern die Scharia.

STANDARD: In wessen Händen genau liegt die Entscheidung über eine Freilassung Ihres Mannes?

Haidar: Allein in jenen der Herrscherfamilie, also im Endeffekt bei König Salman ibn Abd-al-Aziz.

STANDARD: Raif Badawi ist der bekannteste saudische Oppositionelle. Wie ist die Lage der saudischen Opposition insgesamt ...

Haidar: (unterbricht die Frage): Ich sehe meinen Mann nicht als Oppositionellen! Er ist vielmehr ein Intellektueller, der seine Meinung frei geäußert hat.

STANDARD: Was ist der Unterschied zwischen einem Oppositionellen und einem Intellektuellen, dessen Meinung zu den offiziell im Land vertretenen Ansichten in Opposition steht?

Haidar: Ein politisch Oppositioneller ist eine Person, die alles in einem Land kritisiert, auch das Gesetz. Ein Intellektueller hingegen schreibt über Dinge, die falsch laufen und fordert in diesen Punkten Verbesserungen. Raif sagte zum Beispiel, dass dem saudischen Komitee zur Förderung der Tugend und Bekämpfung des Lasters weniger Einfluss gegeben werden sollte.

STANDARD: In einem menschenrechtlich relevanten Punkt gab es in Saudi-Arabien kürzlich eine Änderung. Frauen durften erstmals auf Gemeindeebene wählen und selbst als Kandidatinnen antreten. Wie schätzen Sie das ein?

Haidar: Ich hoffe, dass es ein erster Schritt ist.

STANDARD: Welche Schritte sollten folgen?

Haidar: Es sollte in Saudi-Arabien insgesamt Meinungs- und Denkfreiheit geben.

STANDARD: Frauen, so sagten Sie in einem früheren Interview, würden in Saudi-Arabien wie Kinder behandelt. Wie äußert sich das?

Haidar: Darin, dass eine Frau von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod wie eine Unmündige behandelt wird, die nicht selbst für sich sprechen und entscheiden kann. Sie darf nicht Auto fahren. Sie darf nicht allein reisen. Für jeden Schritt braucht sie das Einverständnis ihres Vormunds, also des Ehemannes oder eines anderen Mannes aus ihrer Familie.

STANDARD: Auch die Verschleierung ist Frauen in Saudi-Arabien vorgeschrieben. Sie selbst jedoch haben nach Ihrer Flucht den Schleier abgelegt. Wie kam es dazu?

Haidar: Eine Verschleierung widerspricht meinen Überzeugungen.

STANDARD: Insgesamt drücken Sie sich ziemlich vorsichtig aus. Könnten weniger vorsichtige Äußerungen Raif Badawis Situation weiter verschlechtern?

Haidar: Nein. Das liegt vielmehr daran, dass ich mich nicht als politisch gewandte Person sehe. Ich mische mich politisch nicht ein, sondern engagiere mich allein für die Sache von Raif. (INTERVIEW: Irene Brickner, 19.12.2015)