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Bitteren Spaß daran, sich vorzustellen, mit dem Roman einen posthumen Beitrag und Denkanstoß zu leisten: Carl Djerassi im Jahr 2009.

Foto: AP / Joerg Sarbach

Der Titel dieses Romans erinnert an einen Western, und er spielt tatsächlich in Texas. Zu den handelnden Personen zählen ein steinreicher konservativer Rancher, ein abstoßender, aber rhetorisch effektiver fundamentalistischer Prediger und eine Kellnerin in einem billigen Bierlokal mit höchst loser Zunge. Der zentrale Konflikt ereignet sich jedoch nicht im Wilden Westen, sondern auf der Intensivstation.

Carl Djerassis letzter Roman, erschienen neun Monate nach seinem Tod, ist ein weiterer Vertreter der von ihm definierten "science in fiction". Die ausgezeichnete, die vielfältigen sprachlichen Register kreativ ausdrückende Übersetzung ist die Erstausgabe; das englischsprachige Original ist noch in Vorbereitung. Im Mittelpunkt steht ein bei einem Autounfall verletztes zweijähriges hirntotes Kind, an dem alle Möglichkeiten der medizinischen Technik ausprobiert werden.

Nachdem der fundamentalistische Vater und seine radikale Anhängerschaft mit der Drohung unbezahlbarer Krankenhausrechnungen verscheucht worden sind, beginnt der Arzt Quintus Swann ein nie da gewesenes Programm, um das "HTB" (das hirntote Baby) in verschiedene, nicht weiter benennbare Stadien des Lebens zurückzubringen. Unterstützt, aber auch kontrolliert wird er dabei vom texanischen Krösus Otis Poteet, dem Journalisten Rod Hunt, der hofft, aus dem Fall sensationelle Wissenschaftsprosa zu machen, und dessen Frau Katarina, einer Künstlerin.

Sex und Kognition

Als Lucas – das "HTB" – wider Erwarten schnelle Fortschritte macht, kommt es zu ersten Konflikten. Katarina, Swanns Gegenspielerin, die im Verlaufe des Romans aber auch seine engste Vertraute wird, beschuldigt den Arzt, einen faustischen Pakt auf Kosten des Kindes einzugehen und mit den "diabolischen Gnaden der medizinischen Technik" ein "sterbend unwissendes Leben" für seine Zwecke auszunutzen. Diese Anschuldigungen scheinen durchaus gerechtfertigt, denn Swann lässt sein Forschungsinteresse bereits frühzeitig durchblicken: Er will wissen, ob die sexuelle Entwicklung des Kindes auch ohne Kognition vonstattengehen kann – ob also eine "Erektion ohne IQ" möglich ist.

Für Katarina, die Künstlerin, ist allein diese Fragestellung "obszön". Sie glaubt, bald nach Beginn der Behandlung Fortschritte zu erkennen, die medizinisch weder darstellbar noch messbar sind. Lukas habe eine "Form des Bewusstseins, das wir noch nicht kennen", und "hört, was wir nicht hören". Er reagiert, das muss auch der Arzt bald einräumen, deutlich auf verschiedene Arten von Musik, entwickelt eine "musikalische Reife" und "kommuniziert" so mit seiner Umwelt.

Damit stellt der Roman die Frage nach dem Beginn des Lebens und dessen Erhaltung. Trotz all ihrer unterhaltsam-abstoßenden Lächerlichkeit haben die religiösen Fundamentalisten einen wichtigen Platz in dieser Konstellation, denn sie sind es, die kompromisslos, unduldsam und radikal das Recht auf (zumindest frühes) Leben in jeder Form und in jedem Stadium verteidigen. Die ethische Kontroverse um die Abtreibung, die im laufenden republikanischen Vorwahlkampf in den Vereinigten Staaten wieder deutlich hörbar ist, wird auf dieser fiktionalen Intensivstation zumindest verständlicher.

Wie immer geht es bei Djerassi nicht bloß um Kritik an einem monologischen, ja geradezu autistischen Forschungsdrang – Quintus Swann sieht sich selbst als Verfechter der "Reinheit der Wissenschaft" -, sondern auch um den Einfluss persönlicher Interessen und Befindlichkeiten, die natürlich mit der Genderkategorie verbunden sind. In einem der kritischsten Momente des Buches werden Arzt, Journalist und Mäzen aus feministischer Perspektive als "drei auf egoistische Selbstdarstellung bedachte Männer" bezeichnet, die jeder Empathie für den Patienten verlustig gegangen sind.

Gleichzeitig betont der Roman aber nicht nur die "persönlichen Aspirationen" hinter der Wissenschaft, sondern zeigt auch, wie die ersten Zuckungen des Kindes "mühelos Kurs auf das Herz" des Arztes nehmen. Katarinas Anschuldigung, bei Swann als "narzisstischem Psychopathen" sei das Gefühl "ausgelöscht durch Stolz und Ehrgeiz der Wissenschaft", hält daher nicht ganz.

Fragen stellen

Die Frage, was nun aus der Sexualität des pubertierenden, aber kognitiv unbestimmt entwickelten Knaben wird, macht das Buch zu einem wirklich spannenden und höchst überraschenden Roman. Die Antwort wird hier natürlich nicht verraten – es handelt sich aber um einen echten Djerassi, bei dem der Eigenwert der Sexualität wie schon in so vielen seiner früheren Texte betont wird.

Der Stoff, der Djerassi schon seit längerem beschäftigte, zeigt wiederum die Nähe dieses Autors zu brennenden wissenschaftlichen Fragen und seine Fähigkeit, deren ethische Implikationen anschaulich darzustellen. Mit diesem letzten Roman ist er zu großen, grundlegenden Fragen menschlicher Existenz vorgestoßen; durch ihn gewinnen auch seine früheren Romane und Dramen neuen Stellenwert. Im Bereich der "science in literature" ist so ein OEuvre entstanden.

Unmittelbar nach seinem Tod am 30. Januar dieses Jahres betonte die Weltpresse die wissenschaftliche und historische Bedeutung des weltberühmten Chemikers (u. a. Pille und Cortison), Autors und Kunstsammlers. Bei der "Celebration of the Life of Carl Djerassi", die vergangenen März auf dem Grundstück der von ihm gegründeten Künstlerkolonie südlich von San Francisco von seiner Familie veranstaltet wurde, kam wiederholt seine Fähigkeit zum Ausdruck, sich selbst in verschiedensten Ausdrucksformen immer wieder infrage zu stellen – und damit neu zu erfinden.

Mehrere hundert Besucher feierten ihn als modernen Renaissancemenschen und singulären Kreativen in zwei Jahrhunderten. Bei einer Veranstaltung der Universität Salzburg zu den österreichisch-amerikanischen Beziehungen wurden Djerassi und sein Werk als Paradigma für den Beitrag des Exils zum transatlantischen Austausch hervorgehoben.

Nach all den Darstellungen und Würdigungen hat er sich nun wieder selbst zu Wort gemeldet. In Vier Juden auf dem Parnass, seinem Opus magnum, hatte er 2008 Theodor Adorno, Walter Benjamin, Gershom Scholem und Arnold Schönberg über das Nachleben und den Nachruhm philosophieren lassen. In seinem Roman Marx, verschieden fingiert ein bedeutender Schriftsteller seinen Tod, um die Nachrufe lesen und seine weitere Reputation miterleben zu können.

In unserem letzten Gespräch im Herbst 2014 hatte er einen gewissen, wenn auch bitteren Spaß daran, sich vorzustellen, mit diesem Buch einen posthumen Beitrag und Denkanstoß zu liefern, sozusagen vom Parnass aus, auf dem er sich schon zu Lebzeiten einen Platz reserviert hatte. Er hat mit dem Roman aber auch die Diskussion über die Notwendigkeit einer künstlerisch-literarischen Befragung von Wissenschaft und technischer Entwicklung neu eröffnet. (Walter Grünzweig, Album, 30.12.2015)