Moment, gleich kann es weitergehen: Dirigent Mariss Jansons wird Extrapost überreicht – es ist ein Kapellmeisterstab.

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Wien – Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass kein Dirigent des Neujahrskonzertes an diesem ersten Vormittag des Jahres seinen Dienst beschwipst versehen hat. Nicht, dass ein Strauß-Walzer jetzt auf das Niveau einer Bruckner-Symphonie erhoben werden muss. Was an diesem Repertoire allerdings so leicht wirkt, will erst befreit werden. Und es treibt diese Befreiung auch den großen Könnern Sorgenfalten auf die Stirn. Da kommt man besser ausgeruht und vorbereitet.

Andererseits: Die Klänge der Strauß-Dynastie und ihrer nahen Verwandten selbst sollten schon auch ein bisschen wirken, als wären sie den Freuden einer durchzechten Nacht erlegen. Statt Geradeausgehen eine verschwenderische Pirouette. Statt Zeitdruck ein seliges Innehalten; das Zeitgefühl schwindet, der Augenblick wird scheinbar Ewigkeit ...

Mariss Jansons, der nun sein drittes Neujahrskonzert absolvierte, ist der Inbegriff von Sorgfalt und Akribie. An die 500 Kompositionen erwog er für dieses Konzert (800 sollen es im ersten Jahr gewesen sein). Es dauerte also, bis das Repertoire "komponiert" war und einem gründlichen Studium unterzogen werden konnte. Jansons allerdings wirkte bei seinen vorigen Neujahrskonzerten bisweilen übergenau. Das Unbeschwerte der Klänge schien in all der Präzision mitunter verloren zu gehen; bei aller Seriosität blieb das Magische also quasi im Korsett der Sorgfalt gefangen.

Glänzende "Philis"

Nichts davon in diesem Jahr im Wiener Musikverein, der sich gründlichen polizeilichen Schutzes "erfreute". Zwar fällt Robert Stolz' UNO-Marsch als Weckruf etwas grell aus. Von da an jedoch zeigte Jansons mit den glänzenden Philharmonikern, was es heißt, Balance zu halten – zwischen dem Wunsch, jede Beiläufigkeit auszuschalten, jede Note mit Prägnanz zu erwecken und dennoch nichts zu überfrachten, zu beschweren, es stattdessen einfach fließen und abheben zu lassen.

Belege für Prägnanz lieferte die Polka française Violetta wie auch Eduard Strauß' Polka Außer Rand und Band mit eloquentem Phasenwitz. Zum Glanzstück des Vormittags wurde dann (auf der flotten Repertoireseite) die Ballszene von Josef Hellmesberger senior – ein Meisterstück der leicht und dennoch markant dahinrasenden originellen Streicherlinien.

Da konnten die zwei Treffen mit den lieben Wiener Sängerknaben (Strauß-Polka Sängerlust und Josef Strauß' Polka Auf Ferienreisen) nicht ganz mithalten, während anderes einfach Späßen Unterschlupf gewährte: Jansons durfte bei Strauß' Vergnügungszug-Polka herzhaft tröten, bei Eduard Strauß' Mit Extrapost mit einem ihm überreichten Kapellmeisterstock (Original von Johann Strauß) dirigieren. Bei Ziehrers Weaner Mad'ln wiederum konnte das Orchester seine Pfeifkünste effektvoll einsetzen und beim Seufzer-Galopp (von Strauß Vater) klagend das kollektive Herz ausschütten. All dies wäre allerdings noch nicht ausreichend, um diesen Vormittag als besonders glanzvoll zu bezeichnen. Dazu bedurfte es schon jenes Kerns, jener ausgedehnten Stücke, die symphonische Weisheiten bergen und bei denen ein Dirigent über einen kleinen Temposchubser da, einen forschen Sforzato-Akzent dort hinausgehen muss.

So wie Jansons bei Strauß' Kaiser-Walzer, der zum Meisterstück der Ausgewogenheit wurde: Hier verschmolzen Tiefe, Leichtigkeit, Strukturbewusstsein und Legatokunst zu einem so glutvollen wie grazilen Kosmos der Poesie.

"Donauwalzer" schwebt

Ähnliches – aber wohl nicht mit solcher Eleganz – gelang auch bei Strauß' Schatz-Walzer, dem Sphärenklänge-Walzer und bei Fürstin Ninetta (Entr'acte zwischen 2. und 3. Akt). Wobei: Die Fürstin kam melodisch ein wenig geziert daher und zeigte, wie schmal der Grat zwischen Poesie und Schmalzigkeit ist. Der Donauwalzer schwebte dann allerdings wieder mit graziler Pracht, während Jansons beim Radetzky-Marsch das muntere Orchester bald nach Beginn mit dem schon in Standing-Ovations-Position klatschenden Publikum alleine ließ, um zum Finale wiederzukommen. Verständlich.

Jansons sollte irgendwann ein viertes Mal dirigieren. 2017 ist aber erst einmal der 34-jährige Gustavo Dudamel dran. Das Energiebündel (Chef des Los Angeles Philharmonic Orchestra) wird der jüngste Neujahrskonzertdirigent aller Zeiten sein. Mutig. (Ljubisa Tosic, 2.1.2016)