Die knapp insgesamt 130 Schüler einer Dorfschule in Ghana können dank Solarenergie aus Oberösterreich auch nach Einbruch der Dunkelheit lesen und lernen. Die Schule befindet sich in einer ländlichen Region, die nicht an das Stromnetz angeschlossen ist.

Foto: APA / Christina Schwaha

Wien – "Uns erstaunt immer wieder, wie kurz das historische Gedächtnis sowohl in der Entwicklungsforschung als auch in der Entwicklungszusammenarbeit ist", sagt die Afrikanistin Martina Kopf. "Hundert Jahre an Ideen, Maßnahmen und Interventionen im Namen von Entwicklung haben kein Gewicht in der Konzeption und Evaluierung gegenwärtiger Entwicklungsbeziehungen."

Gemeinsam mit den Historikern Walter Schicho und Gerald Hödl, die beide an der Universität Wien tätig sind, sowie zwei Diplomstudierenden hat Martina Kopf Archive in Tansania, Senegal, England und Frankreich auf der Suche nach entwicklungspolitischen Konzepten und Praktiken durchforstet. Im Rahmen dieses vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekts fanden die Forscher heraus, dass die Geschichte der Entwicklungspolitik weiter zurückreicht als landläufig angenommen.

Sie beginne nämlich nicht erst mit der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Dekolonisierung und dem Kalten Krieg, sondern bereits in den 1920er-Jahren. Schon damals haben die beiden größten Kolonialmächte in Afrika, Frankreich und Großbritannien, den Entwicklungsbegriff zur Legitimation ihrer Aktivitäten in den Kolonien verwendet. Erwartungsgemäß fanden die Wissenschafter in den offiziellen Dokumenten und Berichten zahllose Hinweise auf Rassismus und Paternalismus. "Zu unserer Überraschung stießen wir aber auch auf Ideen und Praktiken, die mit heutigen Begriffen als 'nachhaltige Entwicklung', 'fairer Handel' oder 'Hilfe zur Selbsthilfe' bezeichnet werden", berichtet die Afrikanistin. So habe sich etwa in Frankreich bereits in den 1920er-Jahren eine koloniale Lobby dafür eingesetzt, dass der französische Staat aus öffentlichen Geldern Entwicklungsmaßnahmen in Afrika finanziert.

Im Begriff "Entwicklung", wie er zu dieser Zeit verstanden wurde, verband sich der wirtschaftliche Nutzen der europäischen Metropolen mit einem von Europa aus geplanten und gesteuerten Fortschritt der Kolonien.

Denn die Kolonialministerien hatten erkannt, dass man mehr aus den Kolonien mit all ihren Rohstoffen und Menschen herausholen kann, wenn man in Infrastruktur investiert und die dortige Ökonomie ausbaut. Der moralische Druck, sich als selbstlose Helfer darzustellen, kam erst einige Jahre später in die entwicklungspolitische Debatte.

In seinem 1922 erschienenen Hauptwerk konnte der britische Kolonialpolitiker und -ideologe Frederick Lugard deshalb noch bemerkenswert offen über die Ziele Europas in Afrika schreiben: "Es soll von Anfang an klar gesagt sein, dass europäisches Wissen, Kapital und Energie sich nie aus Motiven purer Philanthropie für die Entwicklung von Afrikas Ressourcen verwendet haben und dies auch niemals tun werden."

"Für die Kolonialmächte standen die Nutzung der afrikanischen Ressourcen, die Disziplinierung der dortigen Arbeitskräfte sowie die Bildung kleiner lokaler Eliten im Vordergrund", so Kopf und ihre Kollegen nach der historischen, sozial- und kulturwissenschaftlichen Analyse zahlloser Texte. "Diese frühen Formen der 'Entwicklungshilfe' waren prägend für die Interaktionen zwischen Europäern und Afrikanern." Charakteristisch für die Geschichte kolonialer Entwicklung sei auch die tiefe Kluft zwischen Diskurs und Handeln – "eine Eigenschaft", sagt Kopf, "die auch postkoloniale Entwicklungsregime kennzeichnet".

Lehrer und Kolonialbeamte

Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, haben die Forscher nicht nur Unmengen offizieller entwicklungspolitischer Dokumente von Regierungen und Kolonialministerien durchforstet, sondern auch literarische und autobiografische Berichte von Missionaren, Kolonialbeamten oder Lehrern. Die Positionen und Überlegungen aus den 1930er-Jahren, die sie etwa zu sozialer Entwicklung, Bildung, Geschlechterverhältnissen, aber auch Ökologie oder wirtschaftlichen Maßnahmen fanden, muten oft sehr modern an.

"Aber diese Überlegungen hatten mit der Praxis oft sehr wenig zu tun", konstatiert die Wissenschafterin.

Überhaupt verbanden sich mit dem Konzept der "Entwicklung" sehr unterschiedliche Interessen. So wurde es nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb weniger Jahre von einem Konzept zur Legitimierung kolonialer Herrschaft zu einem Prinzip, mit dem antikoloniale Bewegungen in Afrika ihre Forderungen nach Unabhängigkeit untermauerten.

Ob sich der Entwicklungsbegriff mit dieser nicht unproblematischen Vergangenheit für eine Politik globaler Gerechtigkeit und Gleichheit überhaupt eignet? Das sei gegenwärtig schwer zu sagen, meint die Forscherin. "Fakt ist aber, dass 'Entwicklung' als Konzept, mit dem auch von neuen Akteuren wie China, Indien oder den arabischen Staaten Politik gemacht wird, ungebrochen wirksam ist."

Ehrliches Engagement

Dabei dürfe man aber nicht übersehen, dass die Förderung von "Entwicklung" immer wieder auch für ehrliches humanitäres Engagement auf einer persönlichen Ebene stand. So zeugen die Berichte von Kolonialbeamten oder Missionaren oft von einem ähnlichen Bemühen, wie man es heute von NGOs oder in der Entwicklungszusammenarbeit kennt. "Dennoch haben diese Menschen den Kolonialismus befürwortet, weil er ihnen, wie sie meinten, erst die Möglichkeit zum Helfen gab", so die Wissenschafterin. Ob das gut Gemeinte letztlich auch für die Kolonisierten immer gut war, müsse im Detail allerdings noch erforscht werden.

Mit dem bereits abgeschlossenen Projekt und der daraus hervorgegangenen Publikation Developing Africa. Concepts and Practices in Twentieth-Century Colonialism ist jedenfalls ein wichtiger Schritt auf der Suche nach den Anfängen der modernen Entwicklungspolitik gesetzt worden. Als Nächstes wollen die Forscher ein digitales Archiv zur Geschichte der österreichischen Entwicklungshilfe aufbauen. Zur Schärfung des historischen Bewusstseins und damit zu einer kritischen Neubewertung gegenwärtiger Entwicklungsbeziehungen könnte das einiges beitragen. (Doris Griesser, 17.1.2016)