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Es gibt Schlechteres, als zu liegen und – auch Klassiker – zu lesen. Und dies zuweilen nicht nur aus philologischem Interesse, sondern aus reiner Sucht.


Foto: Philip Bier/VIEW/Corbis

Was für eine Frage! Ist doch klar: Homer, Dante, Shakespeare, Tolstoi. Oder?

Wiener Schnitzel. Tee mit Zitrone. Kreisel. T-Shirt und Jeans. Budapester. Ostereier. Der Große Wagen. Schiller und Goethe.

Klassiker haben zwar eine ziemliche Lebensdauer (das war jedenfalls einmal so), aber sie halten auch nicht ewig: Der Trenchcoat. Die Missionarsstellung. Pigalle. Peter und Paul.

Klassiker haben notwendigerweise ein gewisses Alter, denn sie müssen sich bewährt haben. Sie sollten über längere, wenn nicht lange Zeit existieren und nicht zu wenigen Lesern wichtig gewesen sein. Sie haben, wie gesagt, eine nicht selbstverständliche Haltbarkeit, um auf keinen Fall zu sagen: Nachhaltigkeit, aber sie sollten auch immer wieder neue Leser finden, ohne viel nach ihnen suchen zu müssen. Dann bleiben sie.

Denkt man; von wegen: Wer jemals die Hinterlassenschaft halbwegs vermögender Bildungsbürger (immer noch das treffendste Wort für diese Sorte Mitmensch) auflösen musste, der kennt die Miene des Antiquars beim Anblick der Bücherschränke: Nach kürzester Zeit hat er mit nicht nur abschätzendem, sondern ebenso abschätzigem Blick, die Buchrücken entlangschreitend, ein Dutzend für ihn brauchbare Exemplare herausgefingert, davon die Hälfte nach Lektüre des Impressums wieder zurückgestellt und vorgeschlagen, den Rest als Altpapier entsorgen zu lassen.

Klassiker-Ranking

Dass Taschenbücher keinen Wert haben, versteht man ja noch, auch dass der 30-bändige Brockhaus in Zeiten von Wikipedia und Google niemandem weiterhilft, aber die Remarque-Ausgabe aus den Zwanzigern – "384. Tausend", sagt der Buchhändler, bereits leicht verzweifelt – und dann die schönen Halblederklassiker, auf die der Onkel doch immer so stolz war. "Klassikerausgaben", rutscht es da dem Antiquar mit einem Ton heraus, als wäre das nun wirklich das Letzte.

Eine Erinnerung, die ich nicht vergessen werde, ist die Stimme meiner Mutter, die mir zuruft: Ja, den Goethe, den kriegst du später mal. "Der Goethe", das war bei uns die 40-bändige Riemer'sche Ausgabe aus dem Cotta'schen Verlag von 1840, gebunden in eine feste Pappe von einzigartigem Grün mit verziertem Rückenschild.

Ich habe sie bekommen, und heute ist sie das Prachtstück meiner Bibliothek. Später erbte ich diese 40 Bände noch einmal, von einer meiner Autorinnen, dieses Mal mit geprägten grauen Deckeln. Im Unterschied zu der eher klassizistischen Ausgabe in Grün hatte diese ganz die Anmutung des 19. Jahrhunderts, des Jahrhunderts also, das das Klassiker-Ranking wohl erfunden hat.

Unsere Ausgabe hatte einer meiner Großväter, so lautete die Familiensage, eines Tages zufällig in einer Waldhütte hinter seinem Haus gefunden – bisweilen überläuft mich die Vorstellung, dass da ein Arisierungsdiebesgut in meinem Regal steht. Dennoch ist diese Ausgabe für mich das, was mir als Erstes in den Sinn kommt, wenn ich an das Wort Klassiker denke. Der Titel Klassiker wird manchen Autoren wie ein Ehrenkranz um den Hals gehängt, sodass man ihre Physiognomie kaum noch erkennen kann.

Bei anderen wiederum gibt es in ihrem umfangreichen Werk nur ein einziges Opus, das nicht vergessen und heute noch gelesen wird – natürlich zu Unrecht: Dumas' Graf von Monte Christo zum Beispiel oder Becketts Warten auf Godot (jetzt protestieren die Beckett-Freunde).

Es kann eben vorkommen, dass ein Werk einen weiten Schatten wirft, dass alles andere unter ihn gestellt scheint. Auch Schillers Stücke sind nicht alle gleichermaßen bekannt, und nicht zuletzt bei Goethe gibt es unentwegt Überraschendes und Hinreißendes zu entdecken.

Das Klassiker-Ranking hat natürlich auch etwas Lächerliches und Anmaßendes; am besten, man nimmt es ganz harmlos als das, was es eigentlich ist: eine Liebeserklärung. Klassiker sein ist ja vor allem ein Etikett der Rezeption, dann erst der Qualität. Und was die Rezeption betrifft, so ist es natürlich ein entscheidender Unterschied, ob man nur weiß, dass es sich bei einem Werk um einen Klassiker handelt, oder ob man es auch kennt.

Wer je in Rom war, der hat die Sixtinische Kapelle besucht, und wer Paris besucht hat, ist auch im Louvre vor der Mona Lisa gestanden (obwohl – als ich das letzte Mal dort war, da hörte ich eine sehr schöne Frau, die sich über den Infotisch beugte, sagen: "Please, we don't have much time, can you tell me which are the highlights of this museum?" Und schon zückte das Infogirl den Plan.)

Wissen statt Kennen

Wer überhaupt etwas mit E-Musik am Ohr hat, der kennt die Kleine Nachtmusik. (Auch da aber erinnere ich mich an einen, der, als die Rede auf die Unvollendete kam, meinte: Das ist doch die mit dem Tatatataaa.)

Auch in der Literatur, um die es hier ja in erster Linie geht, ist Kennen das eine und Wissen das andere. Es kann leicht sein, dass man Effi Briest sehr präsent hat und doch nicht draufkommt, wie der Mann heißt, den sie heiratet und betrügt. Ich selbst habe, was Namen und Handlung angeht, ein miserables Gedächtnis – zum Glück brauche ich nur meine Frau zu fragen. (Umso schöner war da für mich die Vergegenwärtigung, als Peter Rosei neben mir auf dem Bahnsteig in Sankt Petersburg, damals noch Leningrad, mit literaturseligen Tränen im Auge sagte: "Und stell dir vor, hier stand Wronskij und wartete auf Anna.")

Fraglos sollte ein Klassiker während seines langen Lebens von vielen Lesern nicht nur wahrgenommen, sondern für wahr genommen worden sein. Sie müssen das Gefühl gehabt haben, dass ihnen da auf wundersame Weise etwas erzählt oder vorgeführt worden ist, dem man nicht nur nicht widersprechen wollte, sondern dem man zugestimmt hätte, wenn es einem nicht schon beim Lesen oder Zuschauen den Atem verschlagen hätte.

Der Klassiker muss, wenn er denn einer ist und das Zeug zum Bleiben hat, nicht unbedingt bei jedem ein Glücksgefühl, aber doch Zustimmung hervorgerufen haben, und das bei vielen und über einen langen Zeitraum.

Vielleicht ist es aber auch das Kennzeichen des Klassikers, dass alle den Namen kennen, er aber von den meisten eben nicht gelesen wird. Oder nicht mehr. Oder nicht mehr von vielen.

Das muss keine Schande sein. Auch unter sogenannten Gebildeten dürfte so mancher nur dürftige Kenntnisse von Corneille oder Milton haben. Und dass Goethe Manzoni las, war keineswegs verpflichtend für die Späteren.

An der Grenze zwischen den nicht mehr und den immer noch Gelesenen sind all jene angesiedelt, die der Lustleser auf seiner Klassikerliste für unverzichtbar hält, man hat am ehesten da seine liebsten Verehrten: Jean Paul zum Beispiel, Andreas Kalvos, Jens Peter Jacobsen, Nerval. (Und natürlich hat jeder Sprachraum seine eigene Liste, voll wunderbarer Unbekannter für die anderen.) Die Klassiker dieser Welt bilden eine riesige weiße Landkarte, auf der sich das Entdecken und das Vergessen die Waage halten.

Muss man die Klassiker seiner Literaturwelt kennen? Ich denke, man sollte. Nicht alle natürlich, es gibt ja auch keine verbindliche Liste, aber viele, das schon. Ich bin nicht sicher, wie viele, die heute Beziehungsromane schreiben, die Wahlverwandtschaften gelesen haben. Besser, man fragt nicht.

Wir merken alle, dass das Lesen eher nachlässt, also muss man auch bei jungen Lyrikern damit rechnen, dass sie den West-östlichen Divan, Heines Romanzero, die Duineser Elegien oder Pounds Cantos nur "auszugsweise" zur Kenntnis oder Unkenntnis genommen haben. Aber dafür scheinen sie alle Emily Dickinson und Pessoa gelesen zu haben, die wir erst entdecken mussten.

Klassiker sind Kulturfundamente, sie bewahren Sitten und Unsitten der Früheren, sie sind Gedächtnis und Anregung. Vor allem aber sind sie eine nicht endende Lese- und Lebensfreude, auch wenn sie meistens von nicht lustigen Dingen erzählen, sondern von Krieg, Verdammnis, Eifersucht, Trug, Mord und Totschlag.

Die großen Einsamen

Aber auch von Gottesnähe wissen sie zu berichten, vom Triumph der Richtigen (Literatur ist ja immer auch Parteinahme), vom Reichtum der Natur und, last, not least, von der Liebe. Die großen Paare der Weltliteratur (die auch die großen Einsamen sind), ihre Geschichten sind, wie Goethe sagen würde, musterhaft.

Wenn man schon älter ist, ca. siebzig, also, wie man im 18. Jahrhundert gesagt hätte, ein Greis, ich zum Beispiel, dann weiß man auch, dass man nicht mehr alles lesen wird, was man sich so zur späten Lektüre aufgehoben hat.

Ich bin mir daher nicht sicher, ob ich noch dazukomme, endlich Krieg und Frieden zu lesen, ich beruhige mich damit, dass ich Anna Karenina dreimal gelesen habe. Überhaupt merke ich, wie es mich zu den Büchern zieht, die ich schon kenne und lieben gelernt habe. (Ich habe mir gerade wieder den Grünen Heinrich besorgt, natürlich die erste Fassung. Sobald ich den Malte zu Ende habe, auch schon zum dritten Mal, kommt er dran.)

Ich will hier nicht mit Leseeifer protzen, ich möchte ein Beispiel geben, dass die Klassiker meistens nicht zu Unrecht für das gehalten werden, was sie sind: Nachbarn und Freunde, auf die man nicht verzichten mag, oft genug Geliebte, mit denen man niemanden betrügt. Und Liebe kann haltlos machen: Als ich kürzlich Prousts Recherche, die ich natürlich in den rosa Bänden mit der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens kennengelernt habe, in der revidierten Fassung von Lucien Keller ein zweites Mal gelesen hatte, konnte ich dem sofortigen Neubeginn der Proust-Lektüre nicht widerstehen, sobald ich die ersten beiden Reclam-Bände der neuen Übersetzung von Bernd-Jürgen Fischer erworben hatte. Das war gewiss kein philologisches Interesse, sondern reine Sucht. Ich habe mich dann richtig zwingen müssen, damit Pause zu machen.

Apropos Übersetzungen: Wir kennen ja die meisten fremdsprachigen Klassiker nur in Übersetzungen, und tatsächlich ist da in den letzten Jahren eine wahre Bescherung auf die Lesetische gekommen. Aber wir Älteren haben schon auch vor der großartigen Arbeit von Swetlana Geier begriffen, was Dostojewski ist.

Die Frage, wer von den Nachkriegsautoren ein Klassiker werden wird, ist manchem vielleicht beim Tod von Günter Grass in den Kopf gekommen. Tja, wer weiß? Ein weites Feld, wie ein Klassiker des 19. sagte.

Aber wozu haben wir denn eine Nachwelt? Soll die das doch entscheiden. Wir kümmern uns zwischendurch um die Neuen, Jungen, damit das Feld für die kommenden Klassiker weit bleibt. Hauptsache, es wird überhaupt gelesen. (Jochen Jung, Album, 16.1.2016)