Begnadete Körper, wohin man auf dem Hauptplatz von Breslau auch schaute: Die Open-Air-Aktion "Awakening" mobilisierte die Kreativität unzähliger niederschlesischer Stadtbewohner.

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Das niederschlesische Wroclaw besitzt eines der schönsten Altstadtzentren Polens. Die Fassaden der Bürgerhäuser strahlen in Karmin und Ocker miteinander um die Wette. Am Markt, dem "Rynek", wirken die Zeugnisse der Stadtgeschichte planvoll miteinander verquickt. Die niederschlesische Metropole hat mit der Last ihres Erbes einen lukrativen Frieden geschlossen. 1945 war die Stadt, von den Nazis zur "Festung" erklärt, zu 90 Prozent zerstört. Die Verschiebung der polnischen Landesgrenzen nach Westen setzte unmittelbar nach Kriegsende den ziemlich beispiellosen Prozess eines kompletten Bevölkerungsaustauschs in Gang.

Die Erhebung in den Rang einer EU-Kulturhauptstadt wurde erst vor wenigen Jahren gegen härteste innerpolnische Konkurrenz erkämpft. Jetzt ist für rund 630.000 Einwohner die Zeit der Ernte gekommen. Da die Kulturhauptstädte Dioskurenpaare bilden, teilt man sich die Würde heuer mit der Baskenmetropole San Sebastián.

Noch einmal erworben, um zu besitzen

Das kosmopolitische Flair Breslaus wurde zur Eröffnung der Feierlichkeiten auf sympathische Weise unterstrichen. Die Stadt, so schwang es mit, gehört vor allem den Breslauern. Was die Bewohner ererbt von ihren (Groß-)Vätern, also im Nachkrieg, sollten sie jetzt noch einmal erwerben, um es zu besitzen. Vor so viel prophylaktischem Gemeinsinn kapitulierte man als Außenstehender von vornherein gerne.

Das Erwachen der Stadt Breslau aus der eigenen Seinsvergessenheit wurde am vergangenen Wochenende als Stadtfest organisiert. Kurator Chris Baldwin schloss 1300 Breslauer zu einer Prozession zusammen. Unter dem Titel Awakening wurde ein "Zug der Geister" in Bewegung gesetzt.

Wer wollte, durfte skelettdünne Kutschen begleiten, die aussahen wie Cinderellas Kürbis auf Rädern. Die Besatzungen der luftigen Gespanne bestanden aus begnadeten Körpern. Entsprechend viele menschliche Gelenke wurden anmutig gestaucht. Auf Fußgängerbrücken und vor Dachgesimsen aber standen Chöre, die warm in märchenbunten Mönchskutten steckten.

Marsch in vier Säulen

Geistliche Gesänge wehten in frommen Fetzen über die Plattenbauten. Als fröstelnder Gast von Awakening war man sehr froh, nicht unversehens unter die Räder zu kommen. Auch ist keine einzige der vielen Drohnen vom Himmel gestürzt. Die Massenwanderung hinein in das laut pochende Herz der Stadt war ein voller Erfolg. Allerlei Daunenfedern wurden großzügig ausgestreut. Wie man den zahlreich versammelten Breslauern zu ihrer Engelsgeduld überhaupt gratulieren kann.

Der Aufmarsch in vier Kolonnen bildete einen schön gedachten Akt der Versinnbildlichung. Die "Geister der Stadt" sollten an den Wiederaufbau gemahnen, an den hierorts ausgeprägten "Innovationsgeist", aber auch an das furchtbare Oder-Hochwasser 1997. Und während auf einer Oder-Insel Knallkörper zündeten, konnte man eine Ausstellung des baskischen Bildhauers Eduardo Chillida besuchen. Breslau vereint "viele Religionen". So freute man sich ganz besonders über eingestreute Proben jüdischer Liedkunst im kommunalen Raum. Und wurde doch wenige Stunden vorher, während der Eröffnungszeremonie im neuen Konzertpalast Breslaus, aus der verordneten Harmonie herausgerissen.

Vorstadtprogramm mit Substanz

Bürgermeister Rafal Dutkiewicz blendete in seiner Rede die drei Großverbrechen von Faschismus, Kommunismus und Weltkrieg so plan- wie sinnvoll ineinander. Dem Kulturminister Piotr Glinski wollten nicht alle Festgäste unwidersprochen lauschen. Der Soziologe gilt als Schlüsselpolitiker in der rechten PiS-Regierung Beata Szydlos. Der Hinweis des Ministers, die polnische Demokratie sei "stabil", wurde mit einigen höhnischen Zwischenrufen bedacht.

Wirklich substanzielle Beiträge zum Hauptstadtjahr fanden sich im Dickicht der Vorstadt. Die Themenleiste Mercouri/Xenakis erinnerte nicht nur an Melina Mercouri, die Schöpferin des Kulturjahreskonzeptes. Unter der Stabsführung des Österreichers Ernst Kovacic erklangen zwei Orchesterwerke von Iannis Xenakis (1922–2001), Jonchaies und Ata. Und während die Wroclawer Philharmoniker die Glissandi hell zum Leuchten brachten, nahmen viele Reißaus. Man muss die Kräfte einteilen. Heuer kommen unter anderen noch Ennio Morricone und David Gilmour. (Ronald Pohl aus Breslau, 19.1.2016)