Trügerisch ruhiges Voranschreiten der Zeit: Andrea Grill.

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Andrea Grill, "Das Paradies des Doktor Caspari ". € 20,50 / 288 Seiten. Zsolnay, Wien 2015

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"Schmetterlinge sehen immer erwartungsvoll aus", so der Biologe Franz Caspari, "deshalb wirken sie so sympathisch; als würden sie nur Gutes erwarten." Der Schmetterling, der hier den Icherzähler von Andrea Grills neuem Roman zu dieser Betrachtung inspiriert, sitzt in einem Plastikbecher und gehört zur fiktiven Spezies der Calyptra Lachryphagus, einer endemischen Art auf der ebenso fiktiven Insel Mangalemi im Indischen Ozean. Caspari, die Schere in der Hand, ist gerade daran, dem Falter die Fühler abzuschneiden – wohl ganz entgegen dessen Erwartungen.

Seit beinahe zehn Jahren erforscht und züchtet Caspari diese einst vermeintlich ausgestorbene Schmetterlingsart; die ist zwar auch optisch ganz ansehnlich (was für ihn als Wissenschafter natürlich irrelevant zu sein hat), zeichnet sich aber vor allem dadurch aus, dass für ihr Überleben eine ganz besondere Nahrung vonnöten ist: menschliche Tränen. Um seine Falter zu ernähren, genügt es anfangs, dass Caspari sie zu Beerdigungen mitnimmt oder die Haushälterin gelegentlich zum Weinen bringt. Später jedoch ist, sollen die Tierchen am Leben bleiben, in Sachen Tränenbeschaffung mehr Kreativität gefragt.

Verschwundene Spezies

Caspari ist ein Fachkollege seiner Autorin Andrea Grill. Von ihrem Wissen als Schmetterlingsforscherin – sie hat ihre Dissertation über eine endemische Art auf Sardinien abgelegt – profitiert der Roman ungemein. Die Darstellung des Forscheralltags mitsamt der aufreibenden Widerstände, Niederlagen und langsamen Fortschritte ist inhaltlich dicht und psychologisch fesselnd, gerade weil am Anfang neben der vermeintlich verschwundenen Spezies ein rational letztlich nicht zu rechtfertigendes Interesse steht.

Darauf folgen – spät – die ersten Funde, die ersten, umstandslos wegsterbenden Weibchen, die hart erkämpften Erfolge, bis sich in Casparis Räumlichkeiten schließlich tausende Tierchen in unterschiedlichen Stadien vom Ei bis zum Falter tummeln; all das, während ihr – Schöpfer, muss man fast sagen, schon viel zu lange im eigenen Saft schmort.

Emotional unterausgestattet

In Caspari nämlich hat Grill sich nicht nur einen Kollegen, sondern wiederum selbst ein Forschungsobjekt erschrieben. Sie zeichnet ihn als emotional unterausgestatteten, monomanen Exzentriker, so berührungsscheu wie seine Tierchen, ein Wesen der Distanz: Zu seinen "Co-Menschen" etwa, denn: "Wissenschaft geht nur alleine"; auch der Kontakt zur Familie in Wien gelingt am besten vom anderen Ende der Welt aus. Distanz hält er auch zu sich selbst, von dem er gerne in der dritten Person spricht, und nicht zuletzt zu seinem Forschungsobjekt.

Der Blick des Wissenschafters zeichnet sich hier vor allem dadurch aus, was er zu ignorieren, zu übersehen hat: "Die Naturwissenschaftler haben einander innerhalb des letzten Jahrhunderts dazu gezwungen, ihre Ehrlichkeit genau einzugrenzen auf das ihnen anerzogene Vokabular und die übliche Grammatik. Zu viel Phantasie haben wir einander abgewöhnt: weil wir uns ängstigen, den Überblick zu verlieren."

Nun findet man in der Literaturgeschichte zahllose Varianten des gefühlskalten, abgehobenen Geistesmenschen; von vielen seiner literarischen Kollegen jedoch unterscheidet sich Caspari dadurch, dass ihm diese Selbstbeschränkung schmerzlich bewusst ist: "Ich weiß: Sie tauschen nur Pheromone aus, Geruchsstoffe. Doch imaginiere ich Zärtlichkeiten hinein. (...) Wenn wir es Aufregung nennen, weil wir es so nennen können, kann es für die Tiere nicht etwas Ähnliches sein?"

Diesem doch nicht ganz zu unterdrückenden Einfühlungsvermögen stehen die Grausamkeiten an Menschen gegenüber, zu denen Caspari sich zum Zweck der Tränenbeschaffung gezwungen sieht: Obdachlose an Bärten ziehen, Schulkinder erschrecken, bis sie weinen, das setzt grelle Akzente, die allerdings der Roman nicht nötig hätte.

Seinen Sog erhält der Text aus dem trügerisch ruhigen Voranschreiten der Zeit, hinter dem schon bald ein bedrohliches Zittern zu spüren ist. Hat zum Beispiel Casparis zielloses Vervielfachen seiner Schmetterlingspopulation, dieses Vermehren um des Vermehrens willen, nicht schon lange etwas Irres?

Auch gerät er auf theoretische Abwege, was ihm vonseiten der Fachwelt Ablehnungsschreiben einbringt, die ihre Verständnislosigkeit nur halbherzig hinter kollegialen Floskeln verbergen. Dazu kommt, dass Heinrich, sein einziger Freund auf der Insel und sein inoffizieller (vor allem: sein letzter) Fördergeber, plötzlich verschwunden ist, und dass die indische Justiz mit ominösen Forderungen immer hartnäckiger wird.

Menschenfeindlicher Betrieb

Man könnte diesen Roman mit einigem Recht auch als Darstellung eines menschenfeindlichen Wissenschaftsbetriebes lesen, der Caspari mitsamt seinem mittlerweile obsoleten Forscherethos fallen lässt; dabei gehört es jedoch zu den großen Vorzügen des Buches, dass bei allen wirtschaftlichen und beruflichen Bedrängnissen der Vorhang am Ende dennoch auf einer ganz anderen Bühne fällt. Anfangs unter der Hand, bald immer deutlicher zeichnet Grill den Forscher als Melancholiker, der paralysiert auf seine zunehmend fragmentierte Welt blickt.

Einen Falter mag es, wie es im Buch heißt, recht ungerührt lassen, wenn man seine Fühler abschneidet; für Caspari allerdings ist nichts Gutes mehr zu erwarten. (Bernhard Oberreither, 23.1.2016)