Rotweinsucht: Roman Schmelzer (re.) und Stefan Gorski.

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Wien – Ein Mann zerschlägt mit einem Eispickel seine Biedermeiermöbel, geht hinaus in den Schnee und weist sich selbst in ein psychiatrisches Krankenhaus ein. Das kommt in der Belletristik vor wie auch im echten Leben. Raimund Woising (Ulrich Rein-thaller) ist Lehrer und kommt mit dem System der Welt da draußen nicht mehr zurecht. Alle Figuren tragen Namen von Gebirgsgipfeln.

Das Irrenanstaltsdrama Totes Gebirge von Thomas Arzt ist, wie viele seines Genres, ein Schauspiel über eine verfahrene, überforderte Gesellschaft und die Nöte, die am Ende immer der Einzelne auszuhalten hat. Das Stück hatte am Donnerstag Uraufführung im Theater in der Josefstadt; Regie führte Stephanie Mohr.

Totes Gebirge setzt in der von abwaschwassergrauen Noppenschaumstoff austapezierten Anstalt ein (Bühne: Miriam Busch). Zwei im Eck eingebaute Schwingtüren machen deutlich, wie flugs man im Stande ist, zwischen Innen und Außen der Psychiatrie zu wechseln. Und es bleibt dabei jeweils spannend, ob die Menschen mit ihren winterlich gepolsterten Jacken nicht in den Türflügeln steckenbleiben. Ein Panoramafenster gibt den Blick frei in die Natur, wo, geordnet nach sechs Kapiteln: Schnee, Regen, Sturm, Frost, Eis und wieder Schnee die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr in kaum unterscheidbare Wetterlagen einteilen.

In der Josefstadt entsprechen Personal und Patienten allen bösen Klischees eines Anstaltsbetriebs: die in Faltenröcke gezwängte, streng-freudlose Leiterin (Susa Meyer) und der zupackende Pfleger Priel (Peter Scholz), einer jener Sozialarbeitertypen von ausdauernder Gutmütigkeit, ohne die nichts mehr ginge.

Diese Stereotypien sind nicht der einzige Grund, warum der Text auf der Bühne verflacht. Die Darstellung des psychischen Leidens gerinnt meist zu Bildern des um sich schlagenden Wahnsinns (Stefan Gorski) oder der totalen Lethargie (Reinthaller), wobei Abbildung von Krankheit durch Nachahmung am Theater kaum je gut wirkt. Einzig Roman Schmelzer leistet sich als vifer, panisch-sadistischer Emanuel Loser charakterliche Individualität, der man bei der abenteuerlichen Entfaltung gerne zusieht.

Er bandelt mit der Besucherin Theresia Mölbing (Maria Köstlinger) an, die rätselhafterweise im Outfit einer 14-Jährigen steckt. Als aufgekratzte Schwester des Biedermeiermöbelzerstörers kann sie zwar Schuberts Winterreise richtig zitieren ("Mein Herz ist wie erfroren"), macht aber sonst keinen erwachsenen Eindruck (Kostüme: Nini von Selzam).

Totes Gebirge bleibt fest im Zaumzeug der Stadttheaterästhetik eingespannt. Sprachliche (deformierte Sätze) und andere Motive (z. B. Biedermeier, Puppen, Fotografien der Gebirgswanderung) werden nur halbherzig aufgegriffen. Die chorischen Passagen mit Kompositionen der Musikbanda Franui (zugespielt) bilden da eine willkommene Perspektive; sie sind jeweils (auch handwerkliche) Höhepunkte im Zweidreiviertelstunden dauernden Abend. Die Liedstrophen sind in ihrer fremdartigen dialektalen Rhythmik der ideale Soundtrack für dieses Spiegelstück einer Gesellschaft zum Verrücktwerden. (Margarete Affenzeller, 22.1.2016)