"Für mich kommt es nicht infrage, meine eigenen Bücher im Netz frei zugänglich zu machen. "Michael Hagner ist im Prinzip für Open Access, aber nur für Zeitschriftenartikel und ohne Verpflichtung.

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Michael Hagner, "Zur Sache des Buches". € 18,40 / 280 Seiten, Wallstein, Göttingen 2015.

Cover: Wallstein

STANDARD: Durch die Digitalisierung hat sich in den vergangenen Jahren die Arbeitspraxis der Geisteswissenschaften stark verändert. Wie haben Sie das selbst erlebt?

Hagner: Als ich Mitte der 1980er-Jahre in Berlin für meine medizinhistorische Dissertation recherchierte, waren die meisten Traktate aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die ich benötigte, nicht vor Ort vorhanden. Also musste ich nach München, Göttingen, Wien, ja sogar nach Florenz reisen. Den ersten Entwurf habe ich mit der Hand geschrieben, den zweiten in eine IBM-Kugelkopfschreibmaschine getippt. Damals dachte ich noch, dass das die richtige Reihenfolge ist. Dann aber arbeitete ich an einem physiologischen Institut, wo bereits ein Commodore herumstand. Also habe ich meine Dissertation 1986 in einen Computer getippt. Seitdem schreibe ich am Computer.

STANDARD: Hat sich auch Ihre Recherchepraxis "digitalisiert"?

Hagner: Das erste Buch, bei dem ich systematisch auf Digitalisate und auf Google-Books-Suchen zurückgegriffen habe, war "Der Hauslehrer", das 2010 erschien. Darin rekonstruiere ich einen Kriminalfall vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Suchmöglichkeiten im Netz waren sehr nützlich, denn auf diese Weise habe ich Literatur aus der damaligen Zeit entdeckt, die ich ohne Google wohl nicht gefunden hätte.

STANDARD: In Ihrem neuesten Buch "Zur Sache des Buches" aus dem Vorjahr sind mittlerweile Texte aus dem Internet die wichtigsten Quellen.

Hagner: Richtig. Einen Gutteil der Literatur, die ich für dieses Buch las, gibt es auch nur im Internet. Ich habe mir diese Texte aber ausgedruckt, erstens deshalb, weil ich lange Texte nicht am Bildschirm lesen kann. Zweitens ist es Teil meines Arbeitshabitus, mit einem Stift in der Hand zu lesen und Anmerkungen auf dem Papier zu machen. Wenn es nicht absolut notwendig werden sollte, werde ich diese Praxis nicht mehr ändern.

STANDARD: Wie ist das bei Ihren Studierenden? Lesen die noch Texte auf Papier?

Hagner: Meine Studierenden sind nicht ganz repräsentativ, weil ich an der ETH Zürich arbeite, also einer naturwissenschaftlich-technischen Universität. Dort habe ich zwei Gruppen: zum einen die angehenden Naturwissenschafter, die auch geisteswissenschaftliche Kurse belegen müssen. Diese Studenten sind zu 90 Prozent "durchdigitalisiert" und sehen auch nicht ein, warum sie Texte ausdrucken müssen. Dann haben wir aber auch geisteswissenschaftliche Studierende, die bei uns einen Masterstudiengang absolvieren. Das sind auch Digital Natives, aber die sind zweigleisig unterwegs, sprich sie kaufen sich auch Bücher, und ich bestärke sie natürlich darin.

STANDARD: Könnte das womöglich die letzte Generation sein, die papierene Bücher kauft?

Hagner: Ich denke nicht. Ich sehe bei meinen Studierenden eine Sehnsucht danach, ein Buch gründlich zu lesen, weshalb sie meist mit Begeisterung darauf reagieren, wenn ich mit ihnen ein einziges Buch ein ganzes Semester lang durcharbeite. Mir scheint, dass dieses heute verbreitete Überfliegen und schnelle Scannen von digitalen Texten das gründliche Lesen genauso wenig zerstören wird wie das Zeitungslesen rund um 1900. Schon damals gab es Befürchtungen, dass der Siegeszug der Zeitung dem Lesen schaden könnte, aber das hat sich eigentlich nicht bestätigt.

STANDARD: Tatsächlich scheint ja auch der Verkauf von E-Books im Moment ein wenig zu stagnieren.

Hagner: Die Zahlen werden wieder etwas ansteigen, wenn eine neue Generation von Lesegeräten kommt, die mehr können als diejenigen, die heute auf dem Markt sind. Die Veränderungen beim E-Book-Verkauf sind ja weniger durch inhaltliche Gesichtspunkte bestimmt als durch die technische Neuheit des Lesegeräts. Und dieses Diktat der technischen Neuheit gilt für die Geräte viel mehr als für das traditionelle Buch. Womöglich haben aber auch die Enthüllungen des von mir außerordentlich bewunderten Edward Snowden eine Rolle gespielt.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Hagner: Snowden hat eine riesige Aufmerksamkeit dafür geweckt, was mit unseren Spuren, die wir im Netz hinterlassen, passieren kann. Und das gilt auch für das Lesen von E-Books. Dass jeder Kindle-Leser von Amazon selbst wieder gelesen wird, finden zwar viele junge Leute weniger problematisch als Leser in meiner Generation. Dennoch hat das wohl dazu beigetragen, dass die Lesegeräte von ihrem Zauber verloren haben. Und schließlich begreifen immer mehr Leser, dass ihnen ein E-Book gar nicht gehört, sondern dass sie nur eine Lizenz kaufen, es zu lesen, und die kann ihnen jederzeit wieder weggenommen werden.

STANDARD: Wie stehen Sie zur Digitalisierung alter Bücher?

Hagner: Das ist eine fabelhafte Sache, und man kann Google nur dankbar sein, dieses megalomane Projekt gestartet zu haben, alle Bücher seit Gutenberg zu digitalisieren. Wie Google dabei vorgeht, halte ich aber für hochgradig problematisch, was man auch an der Kooperation zwischen Google und der Österreichischen Nationalbibliothek zeigen kann. Ich bin der Meinung, dass dieser Schatz der gesamten Menschheit zur Verfügung stehen sollte, was er auch tut, solange die ÖNB ihre Stromrechnung bezahlen kann. Google hingegen wird mit all den gescannten Büchern zweifellos Geld machen, was ich weniger philanthropisch finde. Insofern folge ich Robert Darnton mit seinem Vorschlag, Google in diesem Segment zu enteignen und das Projekt einer digitalen Weltbibliothek unter die Schirmherrschaft der Unesco zu stellen.

STANDARD: Dann sollten Sie eigentlich auch ein großen Anhänger von Open Access sein, also dem freien Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen für alle.

Hagner: Open Access ist auf jenen Fall sinnvoll bei den Aufsätzen, die in wissenschaftlichen Zeitschriften und in Sammelbänden erschienen sind. Ich bin sehr dafür, dass diese Texte ein Jahr nach der Publikation auch auf Plattformen wie academia.edu oder ResearchGate.net hochgeladen werden dürfen. Bei Büchern ist das anders. Wenn ich von mir selbst sprechen darf: Für mich kommt es nicht infrage, meine eigenen Bücher im Netz frei zugänglich zu machen.

STANDARD: Warum nicht?

Hagner: Das sind alles Bücher, in die Verlage viel Geld investiert haben, um sie beispielsweise gründlich zu lektorieren, sorgfältig zu gestalten und solide herzustellen. Diese Bücher kosten alle zwischen 18 und 25 Euro. Wer nicht bereit ist, dieses Geld auszugeben, kann in die Bibliothek gehen. Und wer dazu nicht bereit ist, hat wohl kein Interesse an diesen Büchern, was auch völlig okay ist. Jedenfalls gibt es kein Recht darauf, solche Bücher einfach irgendwo runterzuladen.

STANDARD: Nun gibt es Bestrebungen, Open Access gleichsam zum Zwang zu machen. Was halten Sie davon?

Hagner: Ich plädiere unbedingt dafür, dass die Wissenschafter darüber selbst entscheiden sollen, ob sie das wollen oder nicht. Wissenschafter dürfen nicht wie Leibeigene einer Universität behandelt werden, wie das etwa an der Universität Konstanz jetzt die Regel ist, indem sie Open Access bei Zeitschriftenaufsätzen für ihre Mitarbeiter zur Pflicht gemacht hat.

STANDARD: Diese Universität argumentiert, dass die öffentlich finanzierte Wissenschaft den Steuerzahlern gehört und die ein Anrecht darauf hätten.

Hagner: Ich halte das für sehr gefährlich. Dieses Argument, das neuerdings auch in der Max-Planck-Gesellschaft, der DFG oder im FWF vertreten wird, öffnet meines Erachtens anti-intellektuellen Affekten Tür und Tor. Die Behauptung, dass öffentlich geförderte Forschung auch der Öffentlichkeit gehört, ist purer Populismus, und der nützt, wie wir heute in anderen Zusammenhängen wieder mal sehen, vor allem den Irrationalisten und Unbelehrbaren. Von hier aus ist es nicht mehr so weit zu der Forderung, dass auch die Öffentlichkeit bestimmen darf, was als Forschung zu gelten habe. Man muss gar nicht die historische Keule auspacken und von "deutscher Physik" reden, um sich vor einem solchen Szenario zu fürchten. Von berechtigten Forderungen nach Demokratisierung des Wissens und "scientific citizenship" ist das jedenfalls sehr weit entfernt.

STANDARD: Die genannten Forschungsförderer sind auch gegen die Geschäfte der großen Verlagsmultis wie Elsevier, Springer oder Wiley, die mit Wissenschaftspublikationen ein Milliardengeschäft machen.

Hagner: Diesen Vorbehalten kann ich mich voll anschließen, und das begründe ich ja auch ausführlich in meinem Buch. Dass etwa die Universitätsbibliothek Konstanz den Marktführer Elsevier boykottiert, halte ich für sehr mutig. Ich frage mich allerdings, warum nicht alle Universitätsbibliotheken im deutschsprachigen Raum nachziehen. Ich jedenfalls verfasse keine Artikel oder Gutachten zu eingereichten Manuskripten mehr, die in Zeitschriften der genannten Verlage erscheinen sollen.

STANDARD: Bis jetzt haben sich die Multis noch recht erfolgreich gegen Open Access gewehrt. Zum Teil profitieren sie sogar doppelt, indem sie für die Möglichkeit, die Texte zugänglich zu veröffentlichen, noch einmal Geld kassieren. Wie wird das weitergehen?

Hagner: Es hat sich in den letzten Jahren mit nichtkommerziellen Zeitschriften wie PLoS One einiges getan, die pro Jahr 30.000 Artikel online und frei zugänglich publizieren und bei denen die Autoren für ihre Artikel zahlen. Ob dadurch die kommerziellen Journale ausgeschaltet werden, ob so ein Megajournal auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften funktioniert, ist schwer vorauszusagen. Wenn Tausende von Artikeln in einem solchen Journal erscheinen, braucht man neue, vermutlich über die sozialen Medien getriggerte Aufmerksamkeitsfilter, damit die Spreu vom Weizen getrennt wird.

STANDARD: In den Naturwissenschaften gibt es nur mehr den englischen Zeitschriftenaufsatz als Form der Veröffentlichung. Wird das auch in den Geisteswissenschaften kommen?

Hagner: Ich gehöre unbeirrt zu jenen, die der Meinung sind, dass die Monografie, also das Buch, den Goldstandard in den Geisteswissenschaften darstellt. Und meiner Meinung nach würden auch die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften gut daran tun, mehr Sorgfalt auf gute Bücher zu legen. Dass das funktionieren kann, zeigt Thomas Pikettys Ökonomie-Bestseller "Das Kapital im 21. Jahrhundert". Natürlich wurde das Buch mehr gekauft als gelesen, aber das ist bei Zeitschriftenaufsätzen ja nicht anders. Natürlich ist dieses Buch eine Ausnahme, aber die Geisteswissenschaften leben auch von Ausnahmen.

STANDARD: Was können Bücher, was Fachartikel nicht können?

Hagner: Sie können große Linien aufzeigen, sie können eine narrative Kraft entwickeln und Verbindungen herstellen, für die man Platz braucht, den man in Aufsätzen nicht hat. Man kann in einem Buch – wenn man es denn kann – verschiedene Themen und Thesen und Argumente miteinander verbinden und damit einen Reichtum entfalten, den kein Artikel, Essay oder Aphorismus erlaubt.

STANDARD: Publikationen im Netz sind auch kein Ersatz?

Hagner: Das Netz kann andere Sachen. Dort kann man Anhänge, Quellen, Daten, Statistiken unterbringen, die ein Buch überlasten würden. Ich sehe da gar keinen Widerspruch. Man sollte sich das nicht als Substituierungsprozess vorstellen, sondern einsehen, dass digitale Publikationen und Papierpublikationen einfach sehr unterschiedliche Sachen können.

STANDARD: Mittlerweile ist es möglich, in manchen Geistes- und Sozialwissenschaften mit Artikeln und nicht mehr mit einem Buch zu promovieren oder sich zu habilitieren. Was halten Sie davon?

Hagner: Ich bin da skeptisch, würde allerdings differenzieren. Bei Sozialwissenschaftern, die experimentell arbeiten, wie zum Beispiel in der Ökonomie und Psychologie, sehe ich das ein, in Fächern wie der Politikwissenschaft schon weniger. Man kann sich aber natürlich auch überlegen, die Anforderungen an eine Promotion ganz generell vom Bücherschreiben abzutrennen, sodass nur dann Bücher geschrieben werden, wenn man sie nicht schreiben muss. Die Gefahr ist allerdings, dass auch Geisteswissenschafter nur noch das kleinteilige Denken in Artikeln lernen.

STANDARD: Was würde Ihrer Meinung nach passieren, wenn die Geisteswissenschaften nach dem Vorbild der Naturwissenschaften nur mehr Fachartikel publizieren würden?

Hagner: Wenn sie sich vom Bücherschreiben abkoppeln – was kein völlig auszuschließendes Szenario ist –, dann werden die Bücher eben von Leuten außerhalb der Universitäten geschrieben, von Freiberuflern, Journalisten, pensionierten Wissenschaftern usw. Und diese Bücher erreichen viel mehr Leser und haben mehr Einfluss als die Artikel in geisteswissenschaftlichen Fachjournalen. Die Geisteswissenschaften würden so aber Gefahr laufen, zu einer Spezialistenveranstaltung zu verkommen wie einzelne Bereiche der Mathematik oder der theoretischen Physik. Und das wäre schlimm. Die Geisteswissenschaften haben, seitdem es sie gibt, von Büchern gelebt. Und es wird die Geisteswissenschaften vermutlich nur so lange geben, wie es Bücher gibt, nicht länger.

STANDARD: Dennoch scheint der Öffentlichkeit in den letzten Jahrzehnten etwas die Lust an den geisteswissenschaftlichen Büchern vergangen zu sein – im Vergleich etwa zu den 1960er- und 1970er-Jahren, als die Suhrkamp-Kultur auf ihrem Höhepunkt war.

Hagner: Klar, die Geistes- und Sozialwissenschaften hatten damals eine große Agenda, die man als politische Emanzipation durch Theorie bezeichnen könnte. Dieses "goldene Zeitalter der Geisteswissenschaften", das ich ja in meinem Buch beschreibe und kritisch analysiere, ist unwiederbringlich vorbei.

STANDARD: Mangelt es den Geisteswissenschaften im Vergleich zu den Naturwissenschaften womöglich an Öffentlichkeitsarbeit?

Hagner: Eigentlich nicht. Anders als Naturwissenschafter benötigen Geisteswissenschafter eigentlich keine Medienspezialisten, um ihre Forschung in die Öffentlichkeit tragen. Die Tagesmedien waren da in den letzten 20 Jahren ziemlich hilfreich, doch mit der Zeitungskrise ist das ein Problem geworden, aber dafür treten digitale Publikationsforen – für kurze Texte, nicht für Bücher – mehr und mehr in den Vordergrund. Jedenfalls sollten wir uns stets vor Augen halten, dass überragende Geisteswissenschafter von Kant und Marx über Hannah Arendt und Ernst Gombrich bis zu Michel Foucault und Carlo Ginzburg immer auch Texte für ein nichtakademisches Publikum geschrieben haben. Das heißt: Die Kunst des Schreibens in verschiedenen Textgattungen und für unterschiedliche Adressaten ist ein integraler Bestandteil der Geschichte der Geisteswissenschaften, dessen wir uns nicht ohne Not entledigen sollten. (Klaus Taschwer, 27.1.2016)