Lewis Klahr baut in "Sixty Six" aus Comics und Magazinen seine eigensinnigen Noir-Pop-Welten.

Foto: Filmfestival Rotterdam

Als umtriebige Hafenstadt ist Rotterdam an den Umgang mit globalen Waren gewöhnt. Das Filmfestival macht sich diesen Geist des Austauschs zunutze, in dem es die Bilder einer eng vernetzten, zugleich aber immer weiter auseinanderdriftenden Welt reflektiert. Dabei ist es beständig gewachsen, und manchen war das Programm, das mehr als andere Festivals dem Weltkino Platz einräumt, schon zu viel: Zu unübersichtlich waren die vielen Sektionen, in denen sich wie in russischen Matroschkas immer noch Untergruppen versteckten.

Der neue Festivaldirektor Bero Beyer, ein Kenner der Branche, hat in seinem ersten Jahr den Hebel ein wenig zurückgedreht und das Programm entschlackt. Im Wettbewerb um die Tiger, die am Samstag vergeben werden, nehmen gar nur noch acht Produktionen teil. Gerade bei den vielen Newcomern, auf die Rotterdam kurz vor der Berlinale sein Schlaglicht wirft, kann die Bündelung helfen.

International Film Festival Rotterdam

Mit Fiona Tan gab es unter ihnen aber auch eine arrivierte Videokünstlerin und Fotografin, die mit History’s Future ihr Langfilmdebüt vorlegte: Die Geschichte eines Mannes (Mark O’Halloran), der unter Gedächtnisverlust leidet, weitet sie zu einer losen, leider auch etwas äußerlichen Reflexion darüber aus, wie die eigene Identität immer von anderen mitbestimmt wird. Die einzelnen Episoden dieser Ich-Vervielfältigung bleiben zu illustrativ, um die Gedanken nachhaltig zu verführen.

Dennoch ist Tan ein gutes Beispiel für die Auflösung von Grenzen zwischen Film und bildender Kunst, die Rotterdam praktiziert. Das experimentelle Kino hat einen Fixplatz, mit Rainer Kohlbergers not even nothing can be free of ghosts und Björn Kämmerers Navigator waren hier auch zwei starke österreichische Arbeiten zu sehen: eine frenetische Stroboskopattacke die eine, die Lichtwellen in hoher Frame-Rate auf das Auge des Zuschauers schleudert und damit Nachbilder hervorruft; ein rotierendes Spiegelkabinett die andere, das zwei gegenläufige Bewegungsbilder generiert, welche die umliegende Landschaft in kubistisches Splitterwerk zerteilen.

Der US-Amerikaner Lewis Klahr ist hingegen für seine kürzeren Collagefilme bekannt, die er mit Sixty Six nun zu einem assoziationsreichen Parcours durch Comicwelten und Magazinfotos der 1960er-Jahre erweitert. In zwölf Episoden lässt sich in dem in bewundernswert manueller Feinarbeit entstandenen Film eine Noir-Pop-Welt bereisen, in der man viele Anklänge an eine versunkene Ära zu entdecken meint – von der Einsamkeit in der Masse, sexuellen (Angst-)Fantasien bis hin zu surrealen Traumsequenzen reichen die Themen, die Klahr vor dem Hintergrund von modernistischen Westcoast-Architekturen und mit einem eklektischen Soundtrack zwischen Leonard Cohen und Claude Debussy erkundet.

In die Vergangenheit, genauer ins Jahr 1967, führt auch Matt Johnsons Operation Avalanche. Der kanadische Regisseur spielt wie in seinem nerdigen Debüt The Dirties wieder selbst die Hauptrolle; diesmal einen ambitionierten Dokumentaristen, der von der CIA angeheuert wird und auf die Idee gerät, die Mondlandung zu faken – allerdings nicht wie Stanley Kubrick, der hier auch "eine Rolle" spielt, sondern in Undergroundmanier in einer nicht allzu geräumigen Garage.

Mondlandung und Paranoia

Der Witz von Operation Avalanche liegt in seiner hintersinnigen Form, denn Johnson und sein Co-Star Owen Williams haben den Film zum Teil tatsächlich unerkannt auf Nasa-Gelände gedreht: Nicht nur die Idee der Mockumentary wird hier somit verkompliziert, der Film mutiert sogar noch fröhlich weiter – nämlich zum paranoiden Thriller und Actionfilm, als die Filmemacher immer mehr selbst ins Visier dubioser Hintermänner geraten.

Wie Johnson hat auch die deutsche Filmemacherin Nicolette Krebitz ihren Film bereits auf dem Festival in Sundance präsentiert. Und wie dieser beweist sie Mut, eigensinnige Wege zu bestreiten. Wild erzählt von einer jungen Sekretärin (Lilith Stangenberg), deren Leben eine überraschende Wendung ins Animalische nimmt, als sie eines Tages am Heimweg einem Wolf begegnet.

Krebitz’ Film trifft für ihre leicht fantastische Geschichte genau den richtigen Tonfall. Sie nimmt die Entfremdung der Frau, ihre Anziehung zu dem Tier ernst und verliert dennoch nicht den Bezug zum richtigen Leben, der öden Arbeitswelt. Es ist ein Film über Fantasien des Ausbruchs, die Gefahr und den Kitzel, die damit verbunden sind – und über den Mut, sie auch zu Ende zu denken. (Dominik Kamalzadeh, 3.2.2016)