Bild nicht mehr verfügbar.

Putin schürt die Angst vor sozialer Krise und Destabilisierung, um sich als Garant von Sicherheit und Ordnung in Szene zu setzen.

Foto: Reuters / Sergei Karpukhin

Irina Scherbakowa, Karl Schlögel, "Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise". 17,- Euro / 144 Seiten, edition Körber-Stiftung, München 2015

Cover: edition Körber-Stiftung

STANDARD: Als der russische Schriftsteller Alexander Ilitschewski Präsident Putin nach dem überwältigenden Wahlsieg im März 2004 öffentlich weinen sah, wusste er, dass es besser sei, das Land zu verlassen. Markiert der Beginn dieser zweiten Amtszeit eine Zäsur?

Irina Scherbakowa: Die eigentliche Zäsur fand bereits statt, als Putin 1999 von Jelzin zu seinem Nachfolger ernannt wurde. Aber das verstanden viele damals nicht. Selbst von demokratisch denkenden Menschen, Künstlern und Schriftstellern bekam Putin großen Zuspruch. Denjenigen, die sich wie ich von Anfang an kritisch zu Putin äußerten, glaubte man nicht. Was aber auch ich nicht für möglich gehalten hatte, das war diese Wende, die 2005 sichtbar wurde und uns in eine Diktatur führt. Da wurde eine Ideologie konstruiert, die der Vergangenheit zugewandt war und den Patriotismus und nationalen Stolz hervorkehrte. Allerdings konnten wir uns nicht vorstellen, dass Krieg zu einer Vision der jetzigen Putin'schen Amtszeit werde.

STANDARD: Die britische Historikerin Catherine Merridale meinte noch Anfang 2014, dass für Russland alles gut werden könne.

Scherbakowa: Das war eine Selbsttäuschung, eine Beschwörung des Westens, es könne nur gutgehen.

Karl Schlögel: Ich habe mich mit Putin lange nicht beschäftigt, weil ich aus dieser sozialgeschichtlichen Wendung des Marxismus komme, die nur den großen Prozessen Bedeutung beimisst. Worauf ich mich konzentrierte, waren die Veränderungen in den Städten. Nach der Stagnation der Breschnew-Ära erschienen mir diese neuen urbanen Welten wie ein Wunder. In den Nullerjahren passierte etwas, das mir nicht erklärlich war. Ich hatte mir bis dahin nicht vorstellen können, dass es historische Konstellationen gibt, in denen sich eine Leerstelle auftut und eine Figur auftaucht, die all die Charaktereigenschaften in sich vereinigt, um diese Leerstelle auszufüllen: Agilität, Virilität und Omnipräsenz – getrieben von einem Minderwertigkeitskomplex. Auf diesem Gefühl der Kränkung, Zurücksetzung und Demütigung spielt Putin.

Scherbakowa: Die 90er-Jahre waren trotz aller materiellen Schwierigkeiten für mich und viele die glücklichste Zeit. Natürlich schauten wir mit Sorge auf den Tschetschenienkrieg. Aber es waren Jahre der Hoffnung. In Russland beschäftigt man sich jetzt mit dieser Periode. Man denkt, dass in ihr vielleicht die Antwort darauf steckt, was falsch gelaufen ist.

STANDARD: Die sahen im Ende der Sowjetunion die Chance, dass Russland, das seine Probleme immer in den Raum hinausgelagert habe, nun gezwungen sei, sie innerhalb der Gesellschaft zu lösen?

Schlögel: Genau das erfolgt nicht. Es ist schwer zu verstehen, warum dieses große, an Naturschätzen unermesslich reiche Land sich für die Arktis interessiert. Aufgaben des inneren Landesausbaus, der Infrastruktur überlässt man anderen. Chinesische Unternehmen sind jetzt damit beauftragt, die Hochgeschwindigkeitsstrecke von Moskau nach Kasan zu bauen. Es ist eine zentrale Frage, warum es in der russischen Geschichte immer wieder zur Erweiterung des Territoriums statt zu dessen intensiver Nutzung gekommen ist.

Scherbakowa: Ich frage mich auch, warum die Erweiterung ein so wichtiger Teil der Identität ist und warum da immer dieses Gefühl herrscht, beleidigt worden zu sein. Vielleicht ist es dieses russische Unverständnis dafür, dass die Ukraine, Weißrussland und die baltischen Republiken unabhängig sein wollen. Mit Russland zusammen seien sie doch etwas gewesen. Selbst unter Intellektuellen stößt man auf diese Sicht: Wer hätte sich jemals für ein litauisches Theater oder die estnische Literatur interessiert. Wer hätte den kirgisischen Schriftsteller Tschingis Aitmatow gelesen, wenn er nicht zur großen Sowjetunion gehört hätte.

STANDARD: Verharrt Russland in einer imperialen Identität?

Schlögel: Man hat den Eindruck, als würden die Größe und Vielfalt des Landes nur als zerstörerische Kraft gesehen. Jelzin war in vieler Hinsicht ein ohnmächtiger Autokrat, der aber ein Spiel der Kräfte zuließ und bei dem man die Hoffnung haben konnte, die Regionen würden wieder an Bedeutung gewinnen. Putin aber hat Angst davor, die Vielfalt des Landes zur Entfaltung kommen zu lassen. Er sieht die Vielfalt nur als Sprengkraft und nicht als Chance.

STANDARD: Es gibt Stimmen, die meinen, es sei für Russland besser, einen starken Mann an der Spitze zu haben ...

Scherbakowa: Das ist eine Selbstberuhigung des Westens. Obwohl es nicht fließend in die Demokratie überging, wie man sich das etwas märchenhafte Ende der 80er-Jahre vorgestellt hatte, und es vor allem in den Nullerjahren sogar klar wurde, wie gefährdet die Demokratie ist, beruhigte man sich damit, dass Russland noch Zeit brauche. Putin werde Stabilität schaffen, dann werde das Land gedeihen. Diese Haltung des Westens macht uns zu schaffen.

Schlögel: Wenn Putin betont, es gebe nicht die Demokratie an sich, sondern historisch unterschiedliche Ausformungen der Demokratie, mag das zutreffen. Tatsächlich aber versucht er damit, das Zurückdrängen demokratischer Institutionen zu rechtfertigen. Putin schürt die Angst vor sozialer Krise und Destabilisierung, um sich als Garant von Sicherheit und Ordnung in Szene zu setzen.

STANDARD: Aber ist es gerechtfertigt, Putin allein die Verantwortung für das erkaltete Verhältnis zwischen Russland und dem Westen zuzuschreiben? Muss nicht auch Europa Fehler eingestehen?

Schlögel: Alle haben Fehler gemacht. Das westliche Europa hat sich nie wirklich für Osteuropa interessiert. Ich mache der EU nicht zum Vorwurf, dass sie die Ukraine drängte, ein Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen, sondern dass sie sich viel zu spät um die Ukraine gekümmert hat. Sie wusste nicht, was die Ukraine ist. Der Westblick war in diesem potenten Westeuropa so intakt, dass Osteuropa als ein Hinterhof wahrgenommen wurde. Das ist eine andere Interpretation als dieses Narrativ Putins, er reagiere nur auf die Fehler des Westens. Dass der Westen aggressive Planungen gegenüber Russland gehabt habe, ist ja ein Propagandamärchen.

Scherbakowa: Selbst Politikern wie George Bush jr. war klar, dass es selbstmörderisch ist, mit Russland einen kalten oder gar heißen Krieg anzufangen. Leute im Kreml sind den alten Denkweisen verhaftet. Sie glauben vermutlich wirklich, dass Russland bedroht sei und man ihm schaden wolle.

STANDARD: Sehen Sie die Gefahr, dass Russland sich China zuwendet, wenn sich das Verhältnis mit Europa nicht bessert? Dann wäre Russland dem Westen verloren ...

Schlögel: Diese Argumentation kann ich nicht nachvollziehen. Auch nicht die Rede, dass man Russland aus Europa hinausdränge. Wie soll das gehen? Russland gehört aus bekannten Gründen nicht zur EU, aber doch zu Europa. China wird eher als Drohkarte eingesetzt. Aber dass ein Mann, der ein dermaßen großes Land führt, mit solchen Gesten Politik treibt, muss einen stutzig machen. Die Vereinbarungen, die Russland mit China über die Gaslieferungen geschlossen hat, sind für Russland ein finanzielles Desaster.

STANDARD: Der Einbruch der Erdölpreise wird Wirtschaftsprobleme verschärfen. Könnte das zu einer Besinnung auf interne Probleme führen, oder muss man eine außenpolitische Aggression fürchten?

Scherbakowa: Keiner weiß, was geschehen wird. Umfragen zeigen, dass die Menschen in Russland es nicht schaffen, nach vorn zu denken und wenigstens für kurze Zeit in die Zukunft Pläne zu fassen. Die Sorgen wachsen, dass der Preis der heutigen russischen Politik eines Tages hoch sein wird. Was passiert, wenn man es nicht schafft, dieses große Territorium zusammenzuhalten?

STANDARD: Haben Sie Angst um Russlands Schicksal?

Scherbakowa: Ich werde pessimistischer. An eine Veränderung der Politik von oben glaube ich nicht. Und was von unten kommt, kann in eine gefährliche Entwicklung münden. Mit dem ukrainischen Krieg wurden aggressive Kräfte frei. Meine Hoffnung richtet sich auf die Menschen. Ich versuche, an eine Wende zu denken. Solche unverhofften Veränderungen gab es in Russland bereits einige Male.

Schlögel: Es ist zweifelhaft, ob die Einengung des Spielraumes eine Führung dazu bringt, aufgeschobene Reformen anzupacken. Putin hat die Schweiß-und-Tränen-Rede für die Modernisierung des Landes im 21. Jahrhundert nie gehalten. Er ging den einfachen Weg: die Einkommen aus Öl- und Gasexporten verschwenderisch umzuverteilen. Man muss auf alles gefasst sein – auch auf Radikalisierung, auch auf die Gefahr eines russischen Faschismus, wenn sich die Kräfte der Verzweiflung zusammentun. (Ruth Renée Reif, ALBUM, 6.2.2016)