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Junge und jüngste Bewohner des Warschauer Ghettos (Aufnahme von 1940): das Überleben organisieren.

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US-Autor Jim Shepard (59), Verfasser von u. a. sechs Romanen, lebt in Massachusetts.

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Wien – Von Beginn an fasst das Schicksal Aron nicht mit Samthandschuhen an. Seine ersten Lebensjahre verbringt der Bub in einem Kaff nahe der litauischen Grenze. Die Armut ist ständiger Gast im jüdischen Haushalt der Rózickys. Und während Aron Arzneiflaschen kaputtschlägt oder aus Jux und Tollerei Tiere aus dem Pferch lässt, kann sich selbst die geliebte Mutter kritischer Töne nicht enthalten. Aron kann nichts, Aron lernt nichts. Dafür lässt Aron keine einzige Kinderkrankheit aus.

Das Wissen, das wir über den Tunichtgut sammeln, stammt von ihm selbst. Wenigstens schenkt uns US-Autor Jim Shepard die Illusion, wir würden das Polen der späten 1930er-Jahre einzig und allein mit Arons Augen sehen. Der Blick gehört einem Kind, das gezwungenermaßen über sich hinauswächst. Rózickys übersiedeln nach Warschau, da der Vater eine Anstellung in einer Wollspinnerei findet. Ohne große Lust trägt Aron sein Scherflein zum Familienunterhalt bei. Er hilft Stoffe aufschaben. Aufgeschabt wird auch die Zeitgeschichte in dem bewegenden Roman Aron und der König der Kinder.

Und während der Bub noch den Lungentod seines kleinen Bruders verkraften muss, bricht der Zweite Weltkrieg über die meistenteils bettelarmen Ostjuden herein. Die polnische Hauptstadt versinkt in Schutt und Asche. Rasch besetzen die deutschen Okkupanten Warschau. Sie beginnen ohne Zögern, die Juden in deren Bewegungsfreiheit empfindlich einzuschränken.

Chronik des Sterbens

Not macht erfinderisch, vor allem aber kostet sie die unbeschwerte Kindheit. Kaum zehnjährige Dreikäsehochs wie Aron bilden Schmugglerbanden und werfen Säcke mit Zwiebeln von ratternden Straßenbahnen. Die Nazis errichten derweil eine drei Meter hohe Mauer rund um den "jüdischen Wohnbezirk". Wer zu ihm "Ghetto" sagt, spielt mit seinem Leben. Aber dieses ist ohnedies kaum etwas wert.

Mit Aron als dem Chronisten dieses tagtäglichen Lebens und Sterbens hat es niemand leicht. Die planmäßige Vernichtung der Juden wirft ihre Schatten voraus. Arons Mutter, eine Wäscherin, sorgt sich rührend um die ordnungsgemäße Entlausung ihrer Mitbürger. Das drohende Unheil ist mit Händen zu greifen. Aron und seine Spielkameraden aber sind Kinder. Sie können sich keinen Begriff machen von dem Unheil, das droht. Der Ton zwischen ihnen ist bemerkenswert rau, ihre Vorstellungen kreisen um die Anforderungen des nächsten Tages.

Atemlos erzählen die entkräfteten Kinder einander vom Martyrium ihrer Familien. Lutek, der Straßenbub mit der Kaninchenfellmütze. Adina, das spröde, ungelenke Mädchen, das zum Besten gibt, wie seine Angehörigen auf dem Land "ins Lagerfeuer springen" mussten. So nennen Unmündige das Unbegreifliche, die planmäßige Ermordung ihrer Liebsten.

Parallele zu Kertész

Die Anordnung von Shepards Buch ist nicht vollkommen neu. Bereits Imre Kertész wählte in seinem erschütternden Roman eines Schicksallosen die Perspektive eines 15-Jährigen, der das hereinbrechende Grauen nicht moralisch einordnet, sondern mit sanfter Bescheidenheit registriert.

Shepard aber lässt Aron, der bald verwaist ist und frierend in Toreingängen hockt, an einen gerechten Helden des Ghettos geraten. Der Arzt und Kinderpädagoge Janusz Korczak (1878-1942) nimmt den Buben unter seine Fittiche. Korczak, der eigentlich Henryk Goldszmit hieß, ist eine verbürgte Figur.

Sein Waisenhaus bot rund 250 Kindern im Ghetto Zuflucht. Unermüdlich zieht der Charismatiker von Stelle zu Stelle. Er bittet mit unverbrüchlichem Stolz um Lebensmittel und lässt sich von niemandem einschüchtern. Aron leistet ihm in Nächten der Schlaflosigkeit Gesellschaft. Er versteht kaum etwas von Korczaks Selbstgesprächen. Als der mit den Kindern 1942 den Gang nach Treblinka antritt, drängt er sie, zuversichtlich zu sein. Sein letztes Wort bildet den Schluss von Shepards ingeniösem Roman: "Ein Kind hat das Recht, Fehler zu machen." (Ronald Pohl, 6.2.2016)