Auch eine Lapidare darf gerührt sein: Burgtheater-Doyenne Elisabeth Orth wurde nach ihrem famosen Gedichtvortrag an ihrem 80. Geburtstag vom Minister und vom Ensemble geehrt.

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Wien – Nicht jede Künstlerin besäße die Großzügigkeit von Elisabeth Orth. Die Doyenne des Wiener Burgtheaters feierte ihren eigenen Geburtstag als Dienstleisterin. Sie beging ihren Achtziger, indem sie anderen ihre Deklamationskunst zum Geschenk machte. Neunundsiebzig plus eins nannte sich ein "lyrischer Abend" im Akademietheater. Zum Vortrag gelangten gezählte 63 Gedichte. Auswahl und Regie oblag dem Dramaturgen Reinhard Deutsch.

Unter die lyrischen Süßholzraspler wird man Orth nicht zählen wollen. Gedichte von Goethe, Hofmannsthal oder das berührende Schlaflied für Mirjam Richard Beer-Hofmanns verschlankt sie zum Beispiel unbarmherzig.

Wollte man der wunderbaren Orth ein eigenes lyrisches Genre zudenken, so wäre es die Verlustanzeige. Ihr Fach ist das Klagen in gebundener Rede, das schlichte Eingedenken ohne Wehleidigkeit. In Orths molltönendem Vortrag wird der Zusammenhang von Sittlichkeit und Sprache gewissenhaft erprobt. Sie schafft das, weil sie lapidar ist. Der ganze Sprachraum ist aktuell wieder voll mit Karl-Kraus-Schülern. Die eifern ihrem Zuchtmeister nach, indem sie seinen Blick für die sprachliche Besonderheit durch ein generelles Moralisieren ersetzen.

Elisabeth Orth schreibt nicht selbst, aber sie legt sich für das Geschriebene anderer mit spröder Bescheidenheit ins Zeug: Daniil Charms, Alois Hergouth, Mascha Kaléko. Unter den lyrischen Sprecherinnen ist sie die denkbar prosaischste. Sie treibt Ingeborg Bachmanns Die gestundete Zeit nicht gleich das Pathos aus, sie stimmt es nur auf etwas Selbstempfundenes herunter. Ihr fiele nicht ein, gegen Zufälligkeiten des Schicksals aufzubegehren. Aber noch Friedrich Torbergs Sehnsucht nach Alt-Aussee atmet, auf einen vermeintlichen Nebenschauplatz der Herzensbildung verweisend, die ganze müde Trostlosigkeit des mörderischen 20. Jahrhunderts.

Zwischen Pult und Schreibtisch trippelt Orth hin und her. Einem Schiller-Gedicht weiß sie Listiges zu entlocken, Hölderlins Hälfte des Lebens verwandelt sie in einen schlichten Befund menschlicher Ausgesetztheit: "Die Mauern stehen / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen ..."

Dass die große Orth ihr Fähnchen niemals nach dem Wind gehängt hat, würdigte bei der anschließenden Feier auf offener Bühne der Kunstminister. Burgchefin Karin Bergmann hob Elisabeth Orths anarchischen Geist hervor. Empfindlich gegen alle angemaßte Herrschaft, reiße sie die Herrschaft auf der Bühne jederzeit an sich. Gemeint ist die natürliche Autorität einer ganz Großen. (Ronald Pohl, 9.2.2016)