Wien – Eine schwarzgekleidete Gestalt durchquert einen schwarzen Raum, beugt sich langsam nach vorn. Der Tänzer im Kapuzenpullover ist Ian Kaler, und die Black Box des Theaters "tarnt" sich als Musikclub. In der Halle G des Tanzquartiers Wien war am Samstag Kalers neues Stück zu erleben: o.T. | (synopsises).

Danach hat das überwiegend begeisterte Publikum verstanden, warum Kaler derzeit zum wohl angesagtesten Tänzer-Choreografen in Deutschland und Österreich aufsteigt. Zusammen mit den Musikerinnen respektive Musikern Jam Rostron und Houeida Hedfi, der Raumkünstlerin Stephanie Rauch und dem Lichtdesigner Jan Maertens stellt er (bis zum Vorjahr: sie) einen Emotionsraum her, dessen Sog sich kaum jemand entziehen kann.

Diese Zugkraft entsteht nicht nur durch eine Raum-, Sound- und Lichtarchitektur, die den Körper in Clubatmosphären hüllen soll. Es gibt eine entscheidende zusätzliche Dimension. Ian Kalers Arbeit setzt sich aus einem Queering des Clubs mit einem "Schmerzraum" zusammen, der mit jenem einer so betitelten Installation von Joseph Beuys aus dem Jahr 1983 vergleichbar ist. Bei synopsises allerdings erscheinen die Beuys'schen Bleiwände wie aufgelöst.

Selbstverkapselung

Was die bei aller Transparenz aber doch verbliebene Pein einigermaßen erträglich macht, ist Rostrons und Hedfis durchlässige Livemusik: als eine Bewegung, die nach Beuys Worten "hinter den Knochen zählt". Im ersten Akt von synopsises hat dieser Schmerz eine Gestalt. Zu Beginn krümmt sie sich mit dem Rücken zum Publikum nach vorn und sinkt zu Boden. Was dann folgt, ist ein Tanzsolo, wie man es seit langem nicht mehr zu Gesicht bekommen hat: grenzgängerisch in Kalers ganz spezieller Art, stets am Rand des Kippens zu tanzen, und in seiner Intensität und Dringlichkeit beinahe schon jenseitig.

Im zweiten Akt kommt der Wiener Philipp Gehmacher, heute ein Protagonist der europäischen freien Tanzszene, dazu. Der Konflikt des Individuums mit der Welt verwandelt sich in einen Austausch über diesem Kampf. Der Schmerzraum weicht einem Schauplatz von Ausbrüchen aus der Selbstverkapselung.

Beide Teile dieser neuen Arbeit sind Steigerungen zweier Stücke, die das TQW an den Abenden zuvor zeigte: o.T. | (the emotionality of the jaw) und o.T. | (gateways to movement). Steigerung heißt nicht, zusätzliche Kicks zu erzeugen, sondern das Publikum in die Komplexität dessen schauen zu lassen, was den Schmerz beim Überschreiten von Konventionen in unserer Gesellschaft verursacht. Ian Kaler ist Anfang März mit (gateways to movement) bei der Tanzplattform Deutschland in Frankfurt vertreten. (Helmut Ploebst, 15.2.2016)