Frauen und Kinder warten nächtens in Griechenland an der Grenze zu Mazedonien, in der Hoffnung, doch noch weiterreisen zu dürfen.

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Bundeskanzler Werner Faymann nennt es "Notwehr". Die von Österreich orchestrierte, von Tag zu Tag dichtere Schließung der Westbalkanroute für Flüchtlinge sei unabdingbar gewesen, da Österreich andernfalls heuer mit unvermindert vielen Asylwerberankünften wie 2015 zu rechnen gehabt hätte, sagt er.

Der Kanzler rechnet vor: Würde jeder EU-Staat im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl gleich viele Flüchtinge aufnehmen wie Österreich es 2015 mir rund 95.000 Menschen gemacht hat, so könnten in der Union rund zwei Millionen Asylsuchende Aufnahme finden; mehr Menschen, als seit Beginn des massiven Zuzugs insgesamt nach Europa gekommen sind.

Die wichtigste Frage

Hier hat Faymann Recht – und dennoch sind seine Erklärungen höchst problematisch. Ebenso jene der Staatschefs und Minister jener Länder, die im Unterschied zu Österreich nicht bereit waren (und sind), Flüchtlinge aufzunehmen. Denn sie alle haben keine Antwort auf die Frage: Was geschieht jetzt, in diesen Tagen und Wochen, mit den Asylsuchenden, für die es wegen der heimischen Obergrenze und den Grenzschließungen in Staaten südöstlich Österreichs aus Griechenland kein Weiterkommen gibt?

Diese Frage ist keineswegs rhetorisch, sondern ganz konkret und akut. Denn an der mazedonischen Grenze und entlang der griechischen Autobahnen und anderen Straßen dorthin spielen sich menschliche Dramen ab: Familien mit Babies und kleinen Kindern sowie unbegleitete Minderjährige sind zu Fuß unterwegs, in der Hoffnung, doch noch irgendwie weiter in Richtung Mittel- und Westeuropa zu kommen.

60 bis 80 Prozent Frauen und Kinder

Laut dem UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR sind zwischen 60 und 80 Prozent der in Griechenland neu Ankommenden Kinder und Frauen. Von den rund 20.000 Menschen, die sich in Griechenland inzwischen bereits stauen, sind das demnach zwischen 12.000 und 16.000 Personen. Und es werden täglich mehr.

Wo übernachten diese Menschen, wo können sie sich ausruhen, wie geht es mit ihnen weiter? Wie lange dauert es, bis ein – sagen wir – Fünfjähriger, der tagelang neben seinen Eltern einherrennen muss, mit ihnen in Zelten oder im Freien übernachtet, schwer erkrankt? Wie lange dauert es, bis seine vor Grenzzäunen und von Polizisten zum Kapitulieren gezwungene Eltern verzweifeln? Was geschieht mit diesen Leuten dann?

Einfach nicht hinschauen

Hat sich das einer der Verantwortlichen für die derzeitige Zuspitzung der Lage –in den Staatskanzleien auf der Westbalkanroute, in jenen der unsolidarischen Länder der EU – wirklich überlegt? Blenden die Herren und Damen diese sich zuspitzende humanitäre Massennotlage von ihrer Wahrnehmung einfach aus?

Oder aber nehmen sie die Verelendung von Flüchtlingen in Griechenland, wo es laut UNHCR derzeit auf dem Festland Alles in Allem 35.000 Unterbringungsplätze gibt, sehenden Auges in Kauf? Eines erscheint klar: In der noblen Menschenrechts-Union EU ist man wahrlich an einem Tiefpunkt angelangt. (Irene Brickner, 28.2.2016)