Der Dreistachelige Stichling (hier links ein Weibchen, rechts ein Männchen), ist derzeit im Begriff, sich in zwei Arten aufzuspalten.

Foto: EAWAG/ Andreas Hartl

Bern – Evolution stellt man sich gemeinhin als langsame Entwicklung vor, bei der Veränderungen erst nach zehntausenden Jahre deutlich sichtbar werden. Das muss aber nicht immer so sein: Manchmal geht Evolution geradezu dramatisch schnell vor sich. Genetische Analysen helfen dabei, sehr frühe Stadien der Artbildung zu erkennen und Artbildungsprozesse besser zu verstehen, wie nun Untersuchungen am Dreistachligen Stichling (Gasterosteus aculeatus) im und um den Bodensee zeigen.

Bei den Bodenseefischern ist der rund zehn Zentimeter große Fisch nicht gerade beliebt. Mittlerweile bleibt der kommerziell uninteressante Stichling Millionen-fach in den Netzen hängen. Im Unterschied zu manchen anderen Arten scheint dem robusten Kleinfisch weder Seenüberdüngung noch Uferverbauungen und Kanalisierungen der Gewässer viel anzuhaben. Seit etwa 150 Jahren breitet er sich im ganzen Mittelland der Schweiz rasant aus.

Rasche Eroberung neuer Lebensräume

Nun gibt eine umfangreiche genetische Untersuchung des Wasserforschungsinstituts Eawag und der Universität Bern Hinweise, was zum Erfolgsrezept der Stichlinge gehört: Sie können sich offenbar sehr rasch an neue Lebensräume anpassen – so rasch, dass sie den Evolutionsbiologen als Modell dienen, wie sich aus einer Art zwei oder mehr Arten zu entwickeln beginnen. Statt eines einzigen "Bodenseestichlings" haben sie nämlich unterschiedliche Formen gefunden, die einerseits typisch sind für den See und andererseits für die Seezuflüsse. Und dies, obwohl auch die Stichlinge aus dem See zur Laichzeit in die kleinen Zuflüsse wandern.

"Es war völlig unerwartet, dass sich die Stichlinge in so kurzer Zeit auseinander entwickeln, wenn sie sich doch zur gleichen Zeit und an denselben Orten paaren", sagt David Marques, Erstautor der im Fachjournal "PLoS Genetics" präsentierten Studie. Üblicherweise entwickeln sich eigenständige Arten, indem sie sich an unterschiedliche Lebensräume anpassen und sich räumlich voneinander isoliert fortpflanzen, im See zum Beispiel in verschiedenen Tiefen. Bei den Felchen (Coregonus sp.) haben sich etwa zusätzlich auch ganz unterschiedliche Paarungs- und Laichzeiten entwickelt.

Die Beobachtung einer Artbildung, wie sie sich zurzeit bei den Stichlingen anbahnt, ist für die beteiligten Forscher faszinierend. Möglich wurde sie erst in den letzten Jahren, dank des technischen Fortschritts in der DNA-Sequenzierung. Rund 40 Regionen auf 20 verschiedenen Chromosomen haben die Wissenschafter identifiziert, wo sich die "Seestichlinge" von den "Bachstichlingen" unterscheiden. Mehr als der Hälfte dieser genomischen Inseln zeigen die Unterschiede unabhängig davon ob sich die Stichlinge am gleichen Ort oder an verschiedenen Orten fortpflanzen.

Neue Ökotypen auf dem Weg zu getrennten Arten?

"Das ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass diese Fische – aufgrund der Anpassungen an die Bedingungen im See oder im Fluss – im Begriff sind, sich zu neuen Arten zu entwickeln", sagt Marques. Von "neuen Arten" reden die Forschenden allerdings ungern. Für dieses frühe Stadium der Artbildung benutzen sie lieber den Begriff der Ökotypen. Denn ob sich diese in Zukunft jemals zu vollständig voneinander isolierten Arten entwickeln, ist ungewiss.

Studien der Eawag-Forscher um Ole Seehausen bei Felchen in Schweizer Seen und bei Buntbarschen im Viktoriasee in Ostafrika haben gezeigt, dass gerade solche Ökotypen und jungen Arten oft empfindlich auf Umweltveränderungen reagieren und sogar wieder verschmelzen können. Es scheint aber, dass die Stichlinge im Bodensee schon heute besser dagegen gerüstet sind: Die genetischen Unterschiede befinden sich an Orten in ihrem Erbgut, die bekannt sind für tiefe Rekombinationsraten.

Die genetischen Unterschiede sind nicht nur in den Diagrammen am Computer sichtbar, sie korrespondieren auch mit Merkmalen an den zwei Stichlings-Typen: So bilden die im See lebenden Gruppen zum Beispiel breitere Knochenplatten am Körper und etwas längere Stacheln. Das schützt sie besser vor Raubfischen und fischfressenden Vögeln, die vor allem im und am See vorkommen. Zudem zeigen die See-Stichlingsmännchen eine dunkler rote Kehle als jene in den Bächen. Vielleicht ist es die erfolgreiche Anpassung ans Leben im See, welche die gegenwärtig großen Bestandeszahlen im Bodensee fördert. Jedenfalls werden die Exemplare im See im Durchschnitt älter und größer als ihre nahen Verwandten in den Bächen. (red, 11.3.2016)