Knaus: Europa muss Versprechen gegenüber der Türkei erfüllen.

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STANDARD: Wie löst man die Flüchtlingskrise?

Knaus: Das Erste, was man tun muss, ist aufhören, durch Scheindiskussionen und populistische, kurzfristige, theaterhafte Politik noch mehr Zeit zu verschwenden. Angela Merkel hat bereits im Oktober vergangenen Jahres alle Elemente einer Lösung der Flüchtlingskrise genannt: Man muss mit den Nachbarstaaten zusammenarbeiten, vor allem mit der Türkei. Man muss das Überqueren der Ägäis sinnlos machen durch Anwendung des Rücknahmeabkommens zwischen Griechenland und der Türkei. Und dann muss man den Türken auch zeigen, dass man sie nicht zu einem Pufferstaat machen will, der alle Flüchtlinge für die reiche EU aufnehmen soll. Das Problem ist: Diejenigen, die an diesem Plan arbeiten, haben in den Details viel zu viele Fehler gemacht und machen sie immer noch. Und gleichzeitig sagt eine andere Koalition, angeführt von Viktor Orbán: "Nein, das ist alles viel zu mühsam mit der Türkei und Griechenland. Wir müssen Zäune bauen." Dieser Streit, diese Fehler haben uns jetzt fünf Monate gekostet.

STANDARD: Ist Österreich jetzt auch in dieser Orbán-Koalition?

Knaus: Ich fürchte, es bewegt sich in diese Richtung. Aber man muss hier unterscheiden. Die einen Länder wie Österreich oder – innerhalb Deutschlands – Bayern nehmen tatsächlich sehr viele Menschen auf, stehen unter großen Druck und fragen sich: Wie kommt man aus diesem Prozess heraus, wo Politiker scheinbar die Kontrolle verloren haben? In diesen Ländern bestehen einfach nur Zweifel, ob die Politik, die Angela Merkel vorgibt, funktionieren wird. Dann gibt es aber eine ganze Reihe von anderen Ländern, die gar kein Problem damit haben, dass Strategien nicht funktionieren, weil ohnehin niemand zu ihnen kommt. Zu diesen Ländern zählen Ungarn, Tschechien, die Slowakei – Länder, die sich einfach so unattraktiv gemacht haben oder es von Anfang an waren, dass sie die ganze Flüchtlingskrise wie die älteren Herren in der "Muppet Show" vom Balkon aus betrachten und sie vor allem dazu verwenden, ihr Profil als "Verteidiger des Abendlands" zu schärfen.

STANDARD: Zwischen Griechenland und der Türkei gibt es seit 2002 ein Rücknahmeabkommen. Warum funktioniert das nicht?

Knaus: Es funktioniert erst jetzt und bei weitem nicht ausreichend. Gestern hat die Türkei zum Beispiel an die 300 Personen aus Griechenland zurückgenommen. Die Griechen haben in den vergangenen Jahren relativ wenige Anträge gestellt und die Türken nur etwa ein Viertel dieser Anträge angenommen. Wenn es dann mit der Rücküberstellung so weit war, wussten die Griechen oft nicht mehr, wo die Migranten waren. Was man braucht, ist ein generell beschleunigtes Verfahren bei der Rücknahme, nicht die 75-Tage-Frist, die jetzt im Normalfall gilt. Die Griechen müssen sich auf die Rücküberstellung noch von den Inseln vorbereiten und nicht Leute mit irgendwelchen Dokumenten nach Piräus weiterfahren lassen. Ziel der Rücküberstellung ist ja, dass Flüchtlinge die Überfahrt kein zweites Mal versuchen.

STANDARD: Die Türkei würde zum Wächter Europas werden.

Knaus: Richtig. Aber sie wird das nur tun, wenn Europa seine Versprechen erfüllt. Das ist das nächste Problem. Man redet zwar über Umsiedlungen von Kriegsflüchtlingen aus der Türkei – aber wann beginnen sie? Über die Modalitäten wird erst jetzt beraten. Es wäre die größte humanitäre Umsiedlung überhaupt, etwas Ähnliches wie bei den Boat-People aus Vietnam. Ich sehe Signale, dass eine kleine Gruppe von EU-Staaten in den nächsten Wochen mit der Umsiedlung beginnen könnte. Dann würden jeden Tag 500, 900 Flüchtlinge aus der Türkei mit dem Flugzeug nach Europa gebracht werden. Es gäbe einen positiven Kreislauf: Die Türken sehen, dass sie nicht allein gelassen werden. Die Griechen, dass sie Flüchtlinge zurückschicken können. Die Syrer würden einsehen, dass sie ihr Leben nicht riskieren müssen. (Markus Bernath, 3.3.2016)