Vassilakou: Viele jetzt Besorgte lehnen Ausländer ab, "es sei denn, sie tanzen im Dirndl um den Maibaum".

Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Wer hat recht im aktuellen Streit zwischen Griechenland und Österreich um Flüchtlinge?

Vassilakou: Hier geht es nicht darum, wer recht hat, sondern was Sache ist. Sache ist, dass Griechenland mit 2000 Inseln und einer der längsten Küstenlinien der Welt unmöglich jene Form von Einreisemanagement leisten kann, das hier verlangt wird. Zudem hat das Land eine marode Struktur im öffentlichen Bereich und steckt nach wie vor in einer tiefen Rezession. Griechenland ist völlig außerstande, hunderttausende Flüchtlinge im Land aufzunehmen und zu versorgen.

STANDARD: Einen erweiterten Frontex-Einsatz will Griechenland nicht.

Vassilakou: Die Probleme, mit denen Griechenland konfrontiert ist, können nicht gelöst werden, solange die Türkei nicht bereit ist, Menschen, die von Europa abgewiesen werden, wieder aufzunehmen. Nur dann machen solche Missionen Sinn. Eine Lösung kann es nur geben, wenn die aufnahmewilligen europäischen Länder und Griechenland und die Türkei gemeinsam ein System aufsetzen.

STANDARD: Sie sprechen von Ländern, die "willig" seien – die Unwilligen dürfen unwillig bleiben?

Vassilakou: Ich habe es aufgegeben, darauf zu warten, dass es in dieser Frage eine europäische Lösung geben kann, an der sich alle beteiligen. Leider sind vielfach Einzelinteressen stärker als Menschlichkeit und Vernunft. Daher wäre es auch nicht ratsam, Flüchtlinge mit Zwang in Länder zu verfrachten, wo sie nicht willkommen sind.

STANDARD: Warum sollte sich ein Land dann darauf einlassen?

Vassilakou: Länder, die aufnahmewillig sind, müssen finanzielle Unterstützung durch die EU bekommen. Es muss ein Gesamtkonzept geben, das nachhaltig wirkt, das die Türkei einbindet, Griechenland in seiner Transitrolle unterstützt und auch jene Staaten, die weiter Flüchtlinge aufnehmen. Das bedeutet auch, dass jene Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen, an diejenigen zahlen, die aufnehmen. Dafür sollte sich die österreichische Bundesregierung einsetzen. Leider ist das Gegenteil der Fall.

STANDARD: Die Regierung sagt: Wir mussten ein Zeichen setzen.

Vassilakou: Hier wird eine sehr scheinheilige Debatte geführt. Die ÖVP-Minister Kurz und Mikl-Leitner geben die rechten Scharfmacher, wohl auch im Hinblick auf die Bundespräsidentenwahl. Und der Bundeskanzler hat sich um 180 Grad gedreht und fällt nun seiner ehemaligen Bündnispartnerin Merkel in den Rücken. Seit Monaten betreibt die Regierung eine Politik der Schlagwörter und stupiden Parolen, statt kluge Pläne wie etwa jene der European Stability Initiative, übrigens von einem Österreicher geleitet, zu verfolgen. Früher hat man von der Festung Europa gesprochen, mittlerweile wird eifrig an der Kleingartensiedlung Europa gebaut, mit Stacheldrahtzäunen rundherum.

STANDARD: Außenminister Sebastian Kurz sagte in einem SZ-Interview, es sei "moralisch nicht hochwertiger", Flüchtlinge in der Türkei davon abzuhalten, in die EU weiterzureisen. Auch dort werde man Polizeigewalt einsetzen müssen.

Vassilakou: Bleiben wir sachlich: Wenn Menschen bis in die Türkei geflohen sind und dort keinerlei Perspektive haben außer der, jahrelang in Lagern zu vegetieren, wird sie nichts und niemand aufhalten können, sich auf den Weg Richtung Europa zu machen – und sei es in Schlapfen. Internationale Organisationen müssen Geld bekommen, um in der Türkei Infrastruktur für Flüchtlinge aufzubauen: Ganze Städte, mit Schulen, Kindergärten, Wohnungen, Jobs müssen dort langfristig geschaffen werden.

STANDARD: Sie unterstützen den Kurs der deutschen Kanzlerin Angela Merkel?

Vassilakou: Selbstverständlich. Weil es das Vernünftigste ist, was ich in den vergangenen Monaten vernommen habe.

STANDARD: Wie viele Menschen kann Europa pro Jahr aufnehmen?

Vassilakou: Festgeschriebene Zahlen sind hier Unsinn – persönlich würde ich meinen, mehrere hunderttausend. Auch Österreich kann mehr als 37.500 aufnehmen – wenngleich ich nicht verhehle, dass man irgendwann am Ende seiner Leistungsfähigkeit angelangt sein wird, wenn die Verantwortung nicht gleichmäßig getragen wird. Die Bundesregierung muss sich darauf konzentrieren, dass die Unterbringung der Menschen endlich funktioniert. Es kann nicht sein, dass in Vorarlberg jede Gemeinde Flüchtlinge aufgenommen hat und es in anderen Ländern immer noch Gemeinden gibt, die keinen einzigen Flüchtling aufgenommen haben.

STANDARD: Darunter sind auch Länder, wo Grüne mitregieren.

Vassilakou: Ich sehe, dass Grüne überall dort, wo sie in Regierungsverantwortung sind, sich nach Kräften bemühen. Aber wir können auch keine Wunder bewirken, wenn auf der anderen Seite seit Monaten in Wahrheit nur gehetzt wird

STANDARD: Sie waren im STANDARD-Interview Ende November dafür, über Obergrenzen zu diskutieren. Jetzt plötzlich nicht mehr?

Vassilakou: Ich habe prophezeit, wir werden diese Debatte haben, und wir haben sie. Es war absehbar, dass eine Bundesregierung, die in jeder politischen Frage gespalten ist, dem Opportunismus verfallen wird. Obergrenzen sind verfassungswidrig. Mehr noch: Sie sind in der Praxis bestenfalls ein Etikettenschwindel, schlimmstenfalls gibt es wieder Lkws mit Toten auf der Landstraße. Die Folgen sehen wir jetzt schon: Zäune, Tränengas, Verzweiflung. Es regiert das Florianiprinzip, und den Letzten beißen die Hunde.

STANDARD: Wie weit geht der Konflikt bei den Grünen in dieser Frage?

Vassilakou: Es gibt natürlich Debatten – wo gibt es die nicht? Das ganze Land diskutiert ja. Aber es gibt keinen Konflikt bei den Grünen. Wir sind alle einig, dass die Einhaltung der Menschenrechte unser Handeln bestimmen muss.

STANDARD: Peter Pilz meinte vor kurzem, die Grünen nähmen die Ängste der Menschen in der Flüchtlingsfrage nicht ernst genug.

Vassilakou: Peter Pilz hat einen Hang zum Dramatischen. Wir führen Debatten, aber wir sind im Grundsätzlichen einig.

STANDARD: Können Sie ausschließen, dass Wien die Mindestsicherung kürzt, wenn alle Flüchtlinge nach Wien geschickt werden?

Vassilakou: Sozialen Kahlschlag wird es mit Grünen nicht geben.

STANDARD: Sie machen das zur Koalitionsfrage?

Vassilakou: Wenn es sein muss, mache ich es auch dazu. Aber es ist überhaupt kein Thema.

STANDARD: Die von SPÖ und Grünen geplante Änderung der Bauordnung wird von der Opposition zerpflückt. Wollen Sie so das Ziel von 10.000 Wohnungsneubauten pro Jahr über die Hintertür erreichen?

Vassilakou: Wir haben genügend Widmungsreserven, daran sollen die 10.000 Wohnungen wirklich nicht scheitern. Hier geht es um die Schaffung temporären Wohnraums für Flüchtlinge, etwa in Bürogebäuden. Das war bis jetzt ein langwieriger Prozess, das soll erleichtert werden – auch, um ungeliebte Großquartiere zu vermeiden.

STANDARD: Stichwort islamische Kindergärten: Hat Wien ein gewaltiges Integrationsproblem, wie es eine aktuelle Studie besagt?

Vassilakou: Missstände gehören aufgezeigt, sie gehören beseitigt, das kann auch bis zur Schließung von Kindergärten gehen, und die Kontrollen müssen wirksam sein. Was Integration anlangt, so hat Wien vor allem ein Problem mit dem österreichischen Schulsystem. Das segregiert so stark, besonders Kinder mit Migrationshintergrund, dass es Eltern offenbar für notwendig erachten, ihre Kinder in privaten Einrichtungen unterzubringen, damit sie sich später leichter tun.

STANDARD: Es war ja wohl eher die schnelle Einführung des Gratiskindergartens, der die Errichtung von Privatkindergärten begünstigt hat ...

Vassilakou: Der Gratiskindergarten ist eine große Errungenschaft. Er hat dazu geführt, dass wir eine flächendeckende Versorgung in Wien haben. Es stimmt, dass man die Qualitätssicherung verbessern muss. Aber zunächst möchte ich die Studie abwarten, welche die Stadt Wien selbst in Auftrag gegeben hat. Ich stütze mich lieber auf Fakten als auf Anekdoten.

STANDARD: Kritisieren Sie die Studie?

Vassilakou: Die Studie haben Berufenere kritisiert. Aber allein wie Herr Kurz diese an die Öffentlichkeit brachte: Man merkt die Absicht und ist verstimmt.

STANDARD: Was heißt das?

Vassilakou: Auch hier gibt es viel Scheinheiligkeit. All jene, die sich jetzt so viele Sorgen machen wegen verschleierter Frauen und Kinder in islamischen Kindergärten, haben jahrzehntelang alles boykottiert, was nach Gleichstellung und Förderung von Einwanderern roch. Sie sagen es nicht laut, lehnen aber "Ausländer" in Wahrheit rundweg ab – es sei denn, sie tanzen im Dirndl um den Maibaum.

STANDARD: Sie haben die Stellvertretung von Eva Glawischnig zurückgelegt. Der Gipfel Ihrer Politkarriere war dann Wiener Vizebürgermeisterin? War's das danach?

Vassilakou: Ich bin eben im Laufe der Zeit draufgekommen, dass ich immer weniger Kraft und Zeit für die Bundes-Aufgabe einsetzen konnte. Ich habe mir das lange überlegt, und mir war auch bewusst: Es gibt den "richtigen" Zeitpunkt nicht. Jetzt, so schien mir, gab es ein kleines "window of opportunity", wo man noch am wenigsten Staub aufwirbelt. Also habe ich gehandelt. Und ich bin sehr froh und erleichtert, dass mir Ingrid Felipe nachfolgt, die ich dort sehen wollte. Sie ist eine echte politische Hoffnung.

STANDARD: Der Gipfel Ihrer Politkarriere war dann Wiener Vizebürgermeisterin? War's das danach?

Vassilakou: Solche Fragen habe ich mir noch nie gestellt. Ich liebe, was ich tue. Ich wollte immer die Grünen in Wien in die Regierung führen, das ist mir gelungen. Was irgendwann ist – wer kann das schon wissen. (Petra Stuiber, 6.3.2016)