Seit Tagen laufen Bilder der katastrophalen Verhältnisse über die Fernsehschirme, in denen tausende Kriegsflüchtlinge und Migranten an dem griechisch-mazedonischen Grenzübergang Idomeni warten, in einem provisorischen Lager. Familien, die auf Decken im Morast sitzen, Kinder, die durch schlammige Wasserlacken springen, hustende und frierende Menschen zwischen den notdürftigen Zelten.

Was sich im griechischen Idomeni auf dem Territorium der Europäischen Union abspielt, ist ein Skandal. Völlig zu Recht fragen sich immer mehr Menschen – durchaus egal, welche Haltung sie persönlich zur Flüchtlingspolitik in Europa einnehmen –, was denn da los ist. Wie kann es sein, dass diese Leute nicht binnen 24 oder 48 Stunden in eine trockene, sichere Unterkunft gebracht werden, eine Halle oder ein beheiztes Großzelt? So notdürftig kann kein Notlager sein, dass es nicht besser wäre als dieses "Calais in Nordgriechenland" vor aller Augen.

Langatmige Erklärungen

Das Ganze erinnert immer mehr an eine andere klägliche Flüchtlingssituation mitten in Europa, bei der sich die EU und ihre Staaten auch auf eine skandalöse Weise "abgeputzt", von jeglicher Verantwortung und vor allem konkreter Hilfe verabschiedet hatten. Im Frühjahr 1999, kurz vor den Osterfeiertagen, machten sich damals hunderttausende Kosovo-Albaner auf den Weg nach Albanien. Sie flohen vor serbischen Truppen und vor dem heraufziehenden Krieg der Nato gegen Serbien. Auch damals liefen schreckliche Bilder von Menschen über die Schirme, die durch Kälte und Dreck wanderten. Aber die EU war gelähmt, im Osterurlaub sozusagen. Keine Helfer wurden losgeschickt. Am Ende sprang die Nato ein, versorgte die Leute mit Decken und dem Nötigsten.

Und heute in Idomeni? Fehlanzeige. Wer in der EU-Kommission nachfragt, bekommt langatmige Erklärungen, wie viele hundert Millionen an "humanitärer Soforthilfe" gerade beschlossen wurden, was nicht alles in Planung sei, wie man ohnehin mit Hilfsorganisationen kooperiere.

In den Hauptstädten der EU-Mitgliedsländer ist es nicht viel besser. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel pflegt ihr Image als wohlmeinende Flüchtlingspolitikerin, kritisiert nun beinahe täglich Österreich und die Balkanstaaten wegen der Grenzsperren. Aber wohltätig wird Merkel leider nicht, im Gegenteil: Ihr Innenminister Thomas de Maizière zeigte sich beim EU-Innenministertreffen in Brüssel am Donnerstag ganz zufrieden, dass "die illegale Migration auf der Balkanroute" zu Ende ist. So kommen praktischerweise viel weniger Flüchtlinge nach Deutschland, wo am Sonntag in drei Bundesländern gewählt wird.

Selbstmitleid der Griechen

Die griechische Regierung ergeht sich in Wehklagen über die EU-Partner und vor allem in Selbstmitleid. Aber es ist seit Tagen unklar, wie sie denn nun für die Flüchtlinge aktiv werden will. Wo sind die 50.000 festen Schlafplätze, die seit Ende Dezember bereitstehen müssten und für die die EU 80 Millionen Euro zahlt? Die wären nicht einmal alle belegt, würden sie existieren, denn mit Stand Dienstag hielten sich laut EU-Kommission etwa 30.000 Flüchtlinge in Griechenland auf: 7.000 auf den Inseln, 10.000 in Idomeni, der Rest in Athen und Umgebung. Hilfsorganisationen, Parteien, Aktivisten, die meisten setzen ihre seit Monaten bekannten Debatten, wer woran schuld ist im Chaos der Flüchtlingspolitik, nahtlos fort. Ohne action.

Also, was denn nun? Kommt irgendeine Institution, eine Regierung auf die Idee, den Gestrandeten in Idomeni konkret zu helfen, sie aus ihrer Lage herauszuholen? Immerhin, ein Sprecher der EU-Kommission sagte Donnerstagmittag auf Anfrage des STANDARD offiziell, dass es sich um eine "schreckliche Situation" handle und "sehr kurzfristig eine Unterstützung und Erleichterung" für die Menschen dort gefunden werden müsse. Es sei auch eindeutig, wer als Erster gefordert sei: "Es ist klar, dass die griechische Regierung das schultern muss." Dafür stünden auch dutzende Millionen Euro bereit, es müsse nur endlich gehandelt werden. Einen offiziellen Appell an die Flüchtlinge, sie sollten Idomeni verlassen und in Lager gehen, will die Kommission aber nicht riskieren. Die Balkanroute ist zu. Aber das will niemand laut sagen, weil Merkel sagte, sie sei nicht zu.

Unverantwortliches Spiel

Das Traurige an dem Fall ist, dass die griechische Regierung ganz offensichtlich nicht handeln will, weil sie bisher davon ausging, dass die Migranten nach Norden "durchgewinkt" werden. Das "Ende des Durchwinkens" und der "illegalen Migration" haben die Staats- und Regierungschefs der EU aber bereits Mitte Februar beschlossen, beim vorvorigen EU-Gipfel, einstimmig, mit der Stimme von Kanzlerin Merkel. Es ist ein zynisches, unverantwortliches Spiel, wie seither Verantwortung und/oder Beschuldigungen hin- und hergeschoben werden. Unwürdig für Europa. Auf der Strecke und hilflos bleiben die Menschen, ob Kriegsflüchtlinge oder Wirtschaftsmigranten. (Thomas Mayer, 10.3.2016)