Stielaugen, ein langer Fortsatz mit bezahnten Kiefern und Tintenfisch-ähnliche Flossen am hinteren Körperende: Tullimonstrum gregarium ließ sich jahrzehntelang nicht im Stammbaum einordnen.

Illustration: Sean McMahon

Die Mazon-Creek-Lagerstätten im Nordosten von Illinois sind der einzige bekannte Fundort dieses Wesens. 1989 wurde es dort zum offiziellen Staatsfossil erklärt.

Foto: Paul Mayer, The Field Museum

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Eine genaue Untersuchung der Tullimonstrum-Fossilien im Field Museum of Natural History in Chicago brachte nun die wahrscheinlichen Verwandtschaftsverhältnisse ans Licht: Eine Rückgrat-ähnliche Struktur rückt das Wesen in die Nähe von heutigen Neunaugen (im Bild).

Foto: Rick Bowmer/AP/dapd

New Haven / Wien – 1958 stolperte Francis Tully aus Lockport, Illinois, in einem Kohletagbau in der Nähe seiner Heimatstadt über ein Monster. Das absonderliche Fossil glich keinem Wesen, das der Amateursammler jemals zuvor gesehen hatte – und auch sonst niemand, wie sich bald herausstellen sollte. Der dunkle, wenige Zentimeter große Abdruck aus den Mazon-Creek-Lagerstätten – einem 300 Millionen Jahre alten Fossilien-Eldorado – zeigte eine längliche Meereskreatur mit Stielaugen und einer Art Rüssel.

Tully brachte die paläontologische Kuriosität zum Field Museum of Natural History in Chicago. Aber auch keine der dortigen Koryphäen konnte sich auf "Mr. Tullys Monster" einen Reim machen. Erst 1966 würdigte Eugene Richardson, Kurator am Field Museum, die Existenz des enigmatischen Fossils mit einem wissenschaftlichen Namen: Tullimonstrum gregarium. Tausende weitere, teils gut erhaltene Funde ergänzten in den letzten Jahren das Bild, das man sich von dem bizarren Wesen macht.

Molluske, Wurm oder Gliedertier?

Das größte bekannte Exemplar erreichte eine Länge von mindestens 35 Zentimetern. Das hintere Ende des Tieres war mit einem Flossenpaar ausgestattet, das jenem moderner Tintenfische ähnelte. Am vorderen Körperende lief der vermutlich weiche, segmentierte Körper in einen langen, dünnen Rüssel aus, der mit einem zahnbewehrten "Maul" abschloss. Manche Forscher halten dies für eine Art Greifer, der Beute zum eigentlichen Fressorgan befördern sollte. Auffällig sind auch die offenbar gut entwickelten Augen: Sie saßen an den Spitzen zweier seitlich abstehender starrer Stiele.

Trotz guter Befundlage widersetzte sich die mysteriöse Kombination von Merkmalen fast sechzig Jahre lang hartnäckig einer taxonomischen Einordnung, selbst der Stamm, dem dieses Wesen entspross, blieb unklar. Einige Paläontologen sahen im "gewöhnlichen Tully-Monster" eine Wurmart, andere hielten es für eine schwimmende Molluske, wieder andere für ein Gliedertier – sie alle sollten sich letztlich irren.

Ein Team um Victoria McCoy von der Yale University könnte nun nämlich das Rätsel um das Tully-Monster gelöst haben: Umfangreiche Scans und chemische Untersuchungen an den über 2000 Exemplaren des Field Museum brachten Hinweise auf eine Art Rückgrat ans Licht, ein steifer Stab, der dem Wesen in Längsrichtung Stabilität verlieh. Damit weist sich das Tully-Monster als Mitglied einer urtümlichen Gruppe von Wirbeltieren aus. Vermutlich war es Teil einer Entwicklungslinie, die Jahrmillionen später die Neunaugen hervorbrachte, schreiben die Forscher im Fachjournal "Nature".

"Ich war fasziniert vom Mysterium, das dieses Wesen umgibt. Dank vieler Funde wissen wir, wie es ausgesehen haben mochte – nun kennen wir auch seine Herkunft", meint McCoy. Über die Lebensumstände der Kreatur lässt sich dennoch weiterhin wenig sagen: Das bezahnte Maul und die Augenanordnung weisen jedoch auf eine räuberische Ernährungsweise hin. Tullimonstrum war demnach vermutlich ein Jäger, der im offenen Wasser seiner Beute nachstellte.

Offene Fragen

Während ein Rätsel nun gelöst scheint, harren weitere wichtige Fragen noch immer einer Antwort: So gibt es beispielsweise keinerlei Hinweise auf Vorfahren oder spätere Varianten dieser Tierart – niemand weiß, woher Tullimonstrum letztendlich kam, wohin es wieder verschwand und vor allem warum seine Fossilien weltweit ausschließlich in der 300 Millionen Jahre alten Schicht am Mazon Creek vorkommen. (Thomas Bergmayr, 16.3.2016)