Johannes Dürr gilt im Feld der Skilanglaufhaudegen besondere Aufmerksamkeit.

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Der Start der 20.

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Johannes Dürr.

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Die Belohnung des Dominators.

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Die Arbeit davor.

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Ein Roter mit Schwarz an den Beinen, daneben ein zweiter Roter mit dünnen dunkelblauen Streifen an den Unterschenkeln. Linkerhand von den beiden in der ersten Startreihe noch ein Langbeinig-Athletischer in Schwarz und Weiß. Frau steht keine am Start, erst später im Rennen wird eine Staffelläuferin auftauchen.

Alle tragen wir gelbe Startnummern. Der Himmel ist trüb, eine spürbare Brise weht. Zwei Minuten noch bis zum Start des Joglland-Vasaloppet. Acht Staffelstartläufer und zwölf, die über die gesamte Distanz ins Rennen gehen, mehr sind wir nicht an diesem Sonntag um acht Uhr in der Früh auf der Wiese hinter dem Gasthof Orthofer.

Einst stand hier das Jagdhaus des letzten Habsburger-Kaisers, des unbeholfenen Karl. Heute führt eine Loipe durch die Wälder, die mithilfe von Schneekanonen und dem sogenannten Snowfarming von Dezember bis März in Betrieb ist. Inklusive Verleihs, Langlaufspezialgeschäfts, Umkleideräumen und natürlich des Gasthofes.

Die zwei Minuten sind vorbei. Ganz hinten werkelt einer an seiner Bindung, auch die Startnummer hat er noch nicht übergezogen. Immer mehr Augen drehen sich nach ihm um, der Mann mit dem Startkommando beschwichtigt.

Drei Plätze neben mir streckt einer seine Beine noch einmal durch. Ihm gilt im Feld der Skilanglaufhaudegen besondere Aufmerksamkeit. Denn obwohl er uns alle besiegen und vermutlich das gesamte Starterfeld überrunden würde, begrüßte man ihn mit einer Herzlichkeit und Wärme, wie man sie an solchen Rennmorgen selten erlebt.

Ein 13-jähriger Schüler

Ich schaue zu ihm hinüber. Zum ersten Mal begegnet sind wir uns vor etwas mehr als sechzehn Jahren. Er, damals ein knapp dreizehnjähriger Schüler am Tag seines ersten Skilanglaufrennens, und ich, ein junger Autor, dessen Schreiben, zufällig oder nicht, gleichzeitig mit dem Wiederaufflammen eines alten Trainingsehrgeizes seine Richtung fand. Der nötigen Unmäßigkeit dieser Lust entsprechend, war mein erstes Ziel um nichts geringer als der größte Volkslanglauf der Welt, der Vasaloppet.

Und als ich bei einem der Vorbereitungsrennen im Winter 2000 mit meinen Skiern über den Parkplatz im niederösterreichischen Fadental stapfte, nachdem ich im Rennen aufgrund glatter Skier – wie ich mir einredete – das Handtuch geworfen hatte, fragte mich aus einem Mannschaftsbus einer, ob ich aufgegeben hätte.

Ich blickte auf, sah einen Knirps mit lustigem, frechem Gesicht, suchte nach einer Erklärung, während er bereits feststellte: "Aufgeben gilt nicht!" Wenige Jahre später zählte der Knirps zu den besten Junioren der Welt. Er wurde Junioren-WM-Dritter und befand sich auf Augenhöhe mit Läufern, die wenige Jahre später Olympiasieger oder Gesamtweltcupsieger wurden.

Er hingegen bekam als 19-Jähriger Pfeiffersches Drüsenfieber, fiel danach in ein massives Übertrainingssyndrom und landete für gut drei Jahre im Nirgendwo.

Fehler des Lebens

Erst 2011 ging es langsam aufwärts, schrittweise näherte er sich der erweiterten Weltspitze wieder an und schaffte 2013 die ersten Weltklasse-Ergebnisse. In der Saisonvorbereitung auf den Olympiawinter 2013/14 machte er dann den Fehler seines bisherigen Lebens, er experimentierte mit Epo. Der Rest ist bekannt, wie vielleicht auch sein Name: Johannes Dürr.

Was geht ihm gerade durch den Kopf, frage ich mich, sehe mir die beiden Roten vor mir an, nicke dem Bunten neben mir zu und merke, mit wie viel Scheu und gleichzeitiger Kumpelhaftigkeit solche Momente vor dem Startschuss aufgeladen sind. Der Wind fährt uns durch die dünnen Rennanzüge in die Glieder, endlich scheint auch der Schluss des Feldes startbereit.

Ein letztes Anspannen und Lockern der Arme und Beine. Und während der Körper in seinem Drängen nach dem Startschuss so tut, als handelte es sich um ein Entkommen, weiß man genau, dass die folgenden Kilometer wenig damit zu tun haben werden.

Im nächsten Augenblick machen sich 20 Läufer auf den Weg. 63 Kilometer liegen vor ihnen, nicht die geplanten 90 des schwedischen Vorbildes. Im letzten Moment hatte das warme Wetter eine wettkampftaugliche Präparierung der neunmal zu durchlaufenden Zehn-Kilometer-Runde verhindert. Übrig blieb die Siebener-Schleife, ebenfalls neunmal zu absolvieren, sowie alle der insgesamt 1.530 Höhenmeter.

Auf einer der ersten Kuppen sehe ich Johannes noch einmal, wie er einige Hundert Meter weiter nun für länger aus meinem Blick verschwindet. Genauer gesagt, bis er mich im Zuge der Überrundung einholen wird. In der vierten Runde erst, so hoffe ich. Doch das liegt nun ganz bei mir.

Gerade in die Zeit nach dem Pfeifferschen Drüsenfieber, als Übertraining den jugendlichen Weltklasseläufer in ein sportliches Nirgendwo befördert hatte, fiel die Zeit eines ersten, sporadischen E-Mail-Kontaktes zwischen uns beiden, dem sportelnden Schriftsteller und dem viellesenden Hochleistungssportler.

Genau sind mir Zeilen von ihm in Erinnerung, in denen er damals schrieb: "Aber ich liebe diesen verdammten Sport und möchte das Hochgefühl, wenn ich die schmalen Latten anschnalle, wieder neu erleben!"

Auch als wir uns im Herbst 2014, ein halbes Jahr nach Sotschi, zum ersten Mal wiederbegegneten, waren zwei Dinge völlig klar: Zum einen dass er ohne seinen Sport nicht leben wollte und deshalb neben seinem 40-Stunden-Job bereits wieder über 20 Stunden pro Woche trainierte. Und zum anderen dass er in dem Augenblick dieselbe Idee eines gemeinsamen Erzählens hatte wie ich.

16 Schinken-Käse-Toasts

Wir waren im Innsbrucker Treibhaus verabredet. Rundum Leute und laute Musik. Wir bestellten Bier, bald darauf Pizza, denn Johannes kam vom Training. Als ich das zweite Bier bestellte, orderte er eine zweite Pizza und ich erinnerte mich dunkel daran, dass vor Jahren von dem damals kaum 1 Meter 60 großen Vierzehnjährigen berichtet wurde, er hätte auf einem Trainingskurs 16 Schinken-Käse-Toasts verdrückt.

Nun erzählte er mir von Sotschi, von der Nacht des Olympiaausschlusses im siebenten Stockwerk eines Hotels, von der Verzweiflung, der Unwirklichkeit, der Scham und Panik.

Und ich erinnerte mich an den frühen Morgen dieses Tages, auf den ich damals nicht nur wegen des großen Olympiarennens hinfieberte. Schließlich war ich zum ersten Mal seit Jahren wieder für ein ÖSV-Skilanglaufrennen gemeldet, zum dritten Lauf des Kelag-Kärnten-Cups in Bad Kleinkirchheim.

Die Renntasche war gepackt, die Skier gewachst, und das Notebook war die ganze Nacht über am Strom angeschlossen, damit ich mir auf dem Parkplatz im Startgelände per Streaming hoffentlich noch vor meiner eigenen Startzeit Bilder der Schlussphase des 50-Kilometer-Rennens in Sotschi ansehen könnte.

Keinerlei Einspruch

Es war der 23. Februar 2014, sieben Uhr morgens. Draußen begann ein heller, blauer Tag. Auf dem Weg ins Badezimmer blieb ich beim Notebook stehen und klappte es wie in den letzten Tagen regelmäßig auf der Suche nach aktuellen Berichten über Johannes und seine Form auf. Immer noch ungläubig, dass dermaßen viel über einen österreichischen Skilangläufer berichtet wurde.

Ich tippte die Webadresse der ORF-Sportseiten ein, wie üblich hier in den Bergen hatte ich nicht sofort Internetverbindung, im nächsten Moment aber blitzte die Sport-Startseite mit einer Meldung kurz, verzerrt und in so rudimentärer Form auf, als handelte es sich bei dieser Zeile um ein böses redaktionsinternes Dummy. Tatsächlich hielt ich mich für den kurzen Augenblick, in dem es auf dem Bildschirm nun schwarz wurde, an der Hoffnung fest, dass nur falsch sein könne, was gerade noch aufgeflimmert war: Johannes Dürr gedopt.

Dann baute sich die Startseite erneut auf, gestochen scharf und alles überdeckend mit einem Bild von ihm auf einer strahlend weißen Loipe samt derselben Schlagzeile wie davor. Ich starrte den Bildschirm an und dachte mir: Das darf jetzt nicht wahr sein! Es hat doch alles erst begonnen, es kann doch nicht gleich wieder vorbei sein!

In den Monaten danach zahlte er Preisgelder zurück, entschädigte alle Sponsoren, sagte umfassend aus und erhob keinerlei Einspruch gegen Bestrafung und Sperre. Alle gegen ihn innerhalb der letzten beiden Jahre laufenden strafrechtlichen Verfahren wurden diversionell erledigt und mit dem 26. Februar 2016 sollte seine Sperre ablaufen.

Da ihn der nationale Verband (ÖSV) nach Sotschi jedoch per mündlichen Spruch lebenslang ausgeschlossen hatte, eine nationale Rennlizenz jedoch Bedingung für die ihm nach Ablauf der Sperre wieder zustehende internationale FIS-Wettkampf-Lizenz war, wurde für die verbleibenden Monate dieses Rennwinters ein Alternativprogramm geplant.

Nordenskiölds Beweis

Im Mittelpunkt ein Rennen, wie es entfernter vom gewohnten Welt- und Europacuptross nicht sein könnte: Der Nordenskiölds-Loppet, der nach seiner ersten und bislang einzigen Austragung im Jahr 1884 nun zum zweiten Mal stattfinden sollte.

Auf jener Strecke, die der Polarforscher Adolf Erik Nordenskiöld als Beweis dafür vorschlug, wie weit sich die samischen Teilnehmer seiner Grönland-Expedition auf das Inlandeis vorgewagt hatten. Mit seinen 220 Kilometern handelt es sich dabei bis heute um das weitaus längste Skilanglaufrennen der Welt.

Anfang Februar hatten wir uns dazu angemeldet: der Hochleistungssportler Dürr, für den eine solche Distanz trotz seiner Klasse ein unabschätzbares Abenteuer darstellt. Der Schriftsteller Prinz, dem physische Abenteuer zwar nicht fremd sind, doch der womöglich bei kaum zwei Drittel der Distanz vor der Realität würde kapitulieren müssen, sowie der ebenfalls ehrgeizige Hobbysportler und Psychotherapeut Ulrich Klement als Dritter im Bunde, dessen Beruf angesichts eines derartigen Unterfangens gar nicht mehr als Pointe bezeichnet werden kann.

Doch zu Beginn der zweiten Februarwoche hieß es seitens der FIS auf einmal, Dürr sei am 10. April in Jokkmokk nicht startberechtigt. Auf Nachfrage folgt der noch größere Rückschlag: Aufgrund fehlender Meldung im internationalen Anti-Doping-Meldesystem während der ersten 18 Monate seiner Sperre, erhalte Dürr von der FIS trotz offiziellen Endes seiner Sperre erst eineinhalb Jahre nach der eigentlichen Sperrfrist wieder Starterlaubnis.

Darauf hatte ihn niemand aufmerksam gemacht. Stattdessen hatte ihn die FIS letzten Sommer nur darauf hingewiesen, sich rechtzeitig – also sechs Monate vor dem 26. Februar 2016 – wieder in das Meldesystem einzuloggen.

Die Erinnerung an das Telefonat nach diesem Schock wird mir lange im Gedächtnis bleiben. Die klar ausgesprochene Frage, ob all das Training einen Sinn habe, wenn seine Sperre de facto noch eineinhalb Jahre andauere. Und im nächsten Augenblick bereits die Suche nach Auswegen. Einer davon, der nicht im FIS-Kalender gelistete Joglland-Vasaloppet. Ein zweiter, der ebenfalls nicht darin aufscheinende Achenseelauf am 28. Februar.

Dass just am Tag des Ablaufs seiner offiziellen Sperre, am Spätnachmittag des 26. Februar, die FIS angesichts eines präzisen Anwaltsbriefes einen Rückzieher in allen Belangen machte, wurde dann zur kaum für möglich gehaltenen Überraschung vor dem ersten Rennwochenende.

An der liebgewonnenen Vorstellung von dem kleinen großen Rennen auf der Loipe von St. Jakob im Walde ließ uns die Startfreigabe auch für größere, parallel stattfindende Wettkämpfe nun nicht mehr rütteln.

Lust am Duell

Vom Joglland nach Jokkmokk, hieß jetzt die Devise. An Jokkmokk dachte ich, als nach der ersten Kuppe nicht nur Johannes aus meinem Blickfeld verschwand, sondern auch Ulrich, der Psychologe, im Flachen etwas mehr Tempo als ich machte.

Ich hatte die völlig ebene Strecke über zugefrorene schwedische Seen vor mir, sah die Effizienz von Ulrichs Doppelstockschüben, ermahnte mich noch zur Vernunft, doch kaum erreichten wir den langen Anstieg der ersten Runde, übermannte mich die Lust am Duell sofort.

Ich spürte die Kraft meiner Diagonalschritte, es ging ganz leicht, schon hatte ich die dreißig Meter Rückstand aus dem Flachen wettgemacht. Wir liefen Schulter an Schulter, ich lächelte zu Ulrich hinüber und er lächelte zurück, gleichzeitig maßen unsere Blicke die Möglichkeiten des anderen.

Und so archaisch es auch sein mag, was sich im Sport in solchen Momenten voller Lust seine Bahn bricht, so vehement sich derartige Duelle führen lassen, so froh ist man über den Konkurrenten, so wahrhaftig ist auch das Lächeln.

Das ist die eine Seite des Sports. Die andere wird bestimmt von den Illusionen und Wünschen, von Öffentlichkeit, Medien und Ökonomie. Denn Sport ist weit mehr als bloßes Unterhaltungsprogramm. Im Hochleistungs- und Profisport wird in berückender Deutlichkeit die Doppelgesichtigkeit einer Gegenwart begreifbar, der er als Oberfläche grenzenloser Illusionen und schärfster Überwachung gleichzeitig dient.

Nirgendwo sonst als an der Ware Sport stoßen die Sehnsüchte nach Verführung und dem Unvorstellbaren so hart an die Gier nach dem Authentischen und Überprüfbaren.

Prototypische Geschichte

Prototypisch ablesbar an einer Geschichte wie jener von Johannes Dürr – und an der Kurzsichtigkeit eines Blicks, in dem selbst renommierte Sportredaktionen nach Bekanntwerden der positiven Dopingprobe schrieben, hier sei einer aus dem Nichts gekommen, ohne zu recherchieren, dass er schon in frühen Jahren zur Juniorenweltspitze zählte.

Johannes Dürr wehrte sich nicht. Er gab ein einziges Interview, ließ die medialen Verurteilungen geschehen, während er zwei Jahre lang an jedem Arbeitstag als Zollbeamter um vier Uhr früh zum Training aufstand und nach einem Acht-Stunden-Dienst am frühen Abend eine zweite Trainingseinheit absolvierte.

Am Ende der vierten Runde, kurz vor dem letzten steilen Anstieg der Schleife, hörte ich dann seine Doppelstockschübe hinter mir. Unbewusst und darin völlig unbeeinflussbar erhöhte das Renntier in mir sofort die Frequenz der Schritte, was an der Überrundung nichts änderte, doch laut seiner Herzfrequenzdaten zum höchsten Puls von Johannes' Rennen führte – eine Tatsache, die mir auch im Nachhinein immer noch Freude macht.

Zwei Stunden später hielt er eine Trophäe aus Glas in den Händen, die bis in Details jener glich, wie er sie für seinen ersten Austria-Cup-Sieg als Schüler erhalten hatte. Damals dauerte die Freude nur jene zehn Minuten, bis die Glasskulptur zu Boden fiel und zerbrach.

Diesmal hielt sie, und sein Weg zurück wird noch lange dauern. Zu zweit werden wir davon erzählen. Von der Schönheit der perfekten Bewegung ebenso wie von dem tiefen, unergründlichen Sog von Schmerz und dunkler Müdigkeit, die in vielen Momenten auf dem Weg zu jener Leichtigkeit stecken, deren Unglaublichkeit die Sportkonsumenten voller Lust und Verzauberung den Kopf schütteln lässt.

Von Etappen wie jener im Joglland oder in Jokkmokk und weit darüber hinaus. Denn vom Sport erzählen, das heißt immer auch von Wünschen, Ängsten und Triebkräften der Gesellschaft selbst zu erzählen. Von der hellen wie der dunklen Seite des Sports. Von atemberaubender Lust wie von erstickender Unheimlichkeit. (Martin Prinz, 21.3.2016)