Nach so einem Lauf denke ich jedes Mal kurz darüber nach, wo die Platte sein könnte. Aber bevor ich mir dann die Mühe mache, sie auch zu suchen, kommt ein zweiter Gedanke: Ich habe ja gar keinen Plattenspieler mehr. Und nur dadurch, dass ich das schwarze Vinyl anglotze, in das meine Lieblingszeile aus meinem zweitliebsten Gang-of-Four-Song in meiner Lieblingsversion gepresst ist, wird daraus dann schließlich auch nicht jenes Zitat, das mir da durch den Kopf blubbert: "At home he feels like a tourist." Und auch wenn das eine aus dem Kontext gerissene Zeile ist: Die eigene Stadt mit den Augen eines Besuchers zu sehen, ist etwas, was ich sehr schätze. Schon alleine deshalb war ich froh, dass Sissi Pärsch letzte Woche zum ersten Mal in Wien war.

Foto: Thomas Rottenberg

Sissi Pärsch kennt nicht nur Wien nicht, sie hat auch keine Ahnung, wer oder was die "Gang of Four" war. Musikalisch bin ich mir da ziemlich sicher. Politisch nicht ganz so. Egal. Jedenfalls habe ich mit meiner bayrischen Kollegin noch nie über Musik im Allgemeinen und Punk-Heroen im besonderen geplaudert – und auch Mao stand noch nie auf der Themenliste: Sissi kenne ich nämlich aus einem anderen Leben. Dem nach den Jahren in Kellern und Clubs. Dem an der frischen Luft: Sissi Pärsch ist Outdoor-Journalistin. Wir sind einander in den vergangenen Jahren bei 1.001 Presseevents über den Weg gelaufen. Geklettert. Gepowdert. Geradelt. Und so weiter. Aber in einer "echten" Stadt haben wir einander noch nie gesehen.

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Vorletzte Woche beradelten wir Teile der Toskana gemeinsam. Und irgendwann erzählte die in München lebende Journalistin da, dass sie zum einen noch nie in Wien war, dies zum anderen aber diese Woche nachholen werde. Dienstlich. Zum Sightseeing sei zwar keine Zeit, aber "Du schreibst doch gerade dieses Laufbuch – kannst du mir vielleicht ein oder zwei hübsche Routen schicken?" Klar kann ich. Oder wir laufen einfach gemeinsam. "Aber es geht sich bei mir nur zeitig in der Früh aus …" Umso besser, bei mir nämlich auch.

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Ein bisserl was hatte die Kollegin von Wien aber schon gesehen, als wir uns Dienstagmorgen trafen: Sie hatte ihre Termine am Vortag mit dem Rad abgespult – und, ganz nebenbei, am Rad-Ring-Rund-Weg mit (höflich gesagt) "großem Erstaunen" jene Linien- und Routenführung erlebt, die Einheimische nur noch schulterzuckend zur Kenntnis nehmen. "Das schaut aus, als würde sich bei Euch keiner trauen, dort anzusetzen, wo man ansetzen muss, wenn man den Radverkehrsanteil tatsächlich anheben will: beim Platz für Autos." Gäste, Besucher und Touristen sind eben noch nicht so abgestumpft wie Ureinwohner – und das gilt auch im Positiven: Ich renne meist meine Trampelpfadrouten – und bin lange nimmer via Spittelberg in die City gelaufen. Und durch Durchhäuser wie das beim Lux oder Hintertüren wie die Breite Gasse sowieso schon ewig nimmer: "Wow, ist das geil!"

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"A tergo" ins MQ zu kommen, ist eigentlich das, was man jedem Touristen empfehlen sollte: Die erste Treppe, hinunter zum Mumok-Eingang, gibt schon einen feinen Vorgeschmack …

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… aber trotzdem ist der Flash dann, wenn der Blick von der Haupttreppe über den großen Platz schweift, bei fast allen Besuchern gewaltig. Und zwar ganz unabhängig davon, ob die Enzi-Möblierung schon steht oder nicht: Das Potenzial dieses Platzes erkennt jeder und jede. Erst recht, wenn er oder sie ihn von oben sieht: "Okay, wenn ich das nächste Mal nach Wien komme, weiß ich, wo ich abhänge."

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Die "klassische" Touri-Route zu laufen, ist tagsüber ein bisserl ein Spießrutenlauf. Ähnlich wie in Schönbrunn gilt "je früher, umso besser" – obwohl man da die Rechnung meist ohne die Asiaten macht: Ich bin auch schon um Viertel vor sieben auf die Gloriette hinaufgerannt – um dort zwischen 40 Taiwanesen den Sonnenaufgang über der Stadt zu begrüßen. Trotzdem gilt auch in der City: Earlybirdrunning erspart einem permanentes Hakenschlagen.

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Für Touristen ist der Ring ja in Wirklichkeit nur zwischen Oper und Burgtheater spannend. Aus diesem Grund warne ich meine Gäste immer vor den gelben Ring-Bims und Bus-Touren – und rate zum regulären Wiener-Linien-Ticket: Mit dem D-Wagen etwa hat man – von Belvedere bis zum Kahlenberg – alles, was Wien und Österreich ausmacht, auf einer Strecke. Mit den Vienna-Citybikes auch. Laufend ginge das auch, aber Sissi hatte nur ein bisserl mehr als eine Stunde Zeit – und hatte von vornherein gesagt, dass sie "sowohl hin als auch zurück laufen" wolle.

Foto: Thomas Rottenberg

Über Bau und Background der Ringstraße kann ich ganze Abende lang labern. Auch über das Wiener Rathaus: Tagsüber würde ich da jetzt einfach durch die Höfe laufen, über die Treppe in den großen Festsaal hinauf, die Tür aufmachen und sagen: "Welcome to Hogwarts." Amerikanische Gäste setzt es da manchmal auf den Hintern. Alle anderen staunen. Und dann gleich nochmal, wenn sie drüber nachdenken, wo in der Welt man eigentlich noch in so ein Gebäude überall reinlaufen kann. Einfach so. Nur: Um sieben Uhr in der Früh geht das dann halt doch noch nicht. Aber davon zu erzählen funktioniert auch.

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Ich bin – berufshistorienbedingt – ein ganz guter Wien-Kenner. Geschichte, Geschichten und G'schichterln über die Stadt, ihre Bewohner und ihr Funktionieren habe ich zum Saufüttern. Trotzdem war ich froh, vor ein paar Tagen ein ganz neues – und wirklich tolles Wien-Buch in die Finger bekommen zu haben: Andrea Maria Dusls "So geht Wien" (Metro-Verlag) – dafür, dass ich bei dem, was ich meinem Gast da an sogar für mich neuen Wien-Geschichten erzählte, nicht immer das Copyright anführte, möchte ich mich an dieser Stelle bei Frau Dusl ausdrücklich entschuldigen. Ich habe ihr – im Ausgleich dafür – aber auch ein paar Kleinigkeiten "gesteckt", die nicht einmal sie wusste …

Foto: Thomas Rottenberg

Eigentlich wollte ich vom Burgtheater über Volksgarten, Hofburg, Kohlmarkt und Graben laufen. Weil die Bundesgärten (Volks- und Burggarten) aus mir nicht ganz nachvollziehbaren Gründen im "Winter" erst um halb acht aufsperren, entschied ich mich für die Variante "Alte Plätze". Mit dem Bonustrack "Palais-Durchhäuser": Die Hofquerungen in "Bobostan" waren – bis auf die beim Lux – ja alle in der falschen Richtung angelegt. Aber wer mit Besuchern über das Palais Harrach und das Ferstel auf die Freyung läuft, sammelt auch ganz rasch ganz viele Punkte ("Das glaub ich jetzt alles einfach nicht!") – und, wichtiger, entdeckt selbst wieder ein paar schöne, sonst oft übersehene Stadtdetails.

Foto: Thomas Rottenberg

Über den Hof zum Judenplatz. Für mich einer der schönsten Altstadt-Plätze Wiens. Aus vielen Gründen. An Rachel Whitereads Holocaust-Mahnmal lege ich normalerweise einen Stein ab. Diesmal hatte ich am Weg hierher schlicht und einfach vergessen, nach Kieselsteinen Ausschau zu halten. Das hole ich nach. Versprochen.

Foto: Thomas Rottenberg

Währenddessen erzählte ich Sissi von der Geschichte der jüdischen Viertel Wiens: Vom Kornhäuslturm, von der Zeit vor H&M, als man in Wien nur hier Mode bekam, die mehr als den Ceaucescu-Look drauf hatte. Von der Wiener Synagoge – und davon, dass das Bermudadreieck immer noch in manch einem Stadtführer aufpoppt, obwohl ich keinen Wiener kenne, der dort heute noch freiwillig ausgehen würde. Und von der Mazzesinsel auf der anderen Seite des Donaukanals.

Foto: Thomas Rottenberg

Am Donaukanal war die Kollegin schon tags zuvor gewesen. Und – kurz – einem durchaus gängigen Irrtum erlegen: "Im ersten Moment habe ich mir gedacht, dass die Donau schon ein bisserl mickrig aussieht. Dann habe ich auf den Stadtplan geschaut." Wir liefen den Kanal abwärts. Ähnlich wie zuvor im MQ sah ich meinem Gast an, was sie dachte: Hier abhängen kann was. Fasziniert sah sie auf das vor sich hinrostende Johann-Strauss-Partyschiff – und war zu höflich zu fragen, warum diese Rostlaube nicht abgeschleppt oder einfach versenkt werde. Das Badeschiff dagegen begeisterte sie: "Ein Pool im Fluss? Sowas gibt es nur hier." Tut es nicht. Aber das verschwieg ich.

Foto: Thomas Rottenberg

Wer einer Läuferin Wien laufend zeigt, muss auch in den Prater. Erst recht, wenn die Läuferin über Sport und Bewegung schreibt: Achsen und Pisten wie die Hauptallee muss man nicht lieben, um ihr Potenzial für die Lauf-Infrastruktur einer Stadt zu verstehen. Sissi ist da eine Seelenverwandte: Dass der Prater umso spannender und schöner wird, je weiter flussabwärts man kommt, verstand sie sofort – dass man als Wien-Besucherin aber auch beim Riesenrad gewesen sein sollte, auch.

Foto: Thomas Rottenberg

Den Rückweg legte ich zügiger an: Am Praterstern winkten wird dem Admiral zu, liefen am Dogenhof vorbei – und mit der Geschichte von der Seemacht Österreich und der Viribus Unitis kamen wir bis in den Stadtpark: Steirereck, Jugendstil. Ohmann-Portal. Ein bisserl was zu juvenilen Spaziergängen unter dem Fluss – und natürlich "Dritter Mann": Wien ist, was es ist.

Foto: Thomas Rottenberg

Und weil Tourismus ohne Klischees nicht funktioniert, beschloss ich, nicht zu kleckern – sondern gleich ordentlich zu klotzen.

Foto: Thomas Rottenberg

Vom Stadtpark ging es weiter zur Albertina – und dann in den (mittlerweile geöffneten) Burggarten: An Stephansdom und Oper war Sissi schon tags zuvor vorbeigekommen. Nur ein zweites Mal vorbeilaufen wäre ein bisserl schade gewesen. Und ich hatte noch zwei Spezialitäten auf der Liste: Zum einen den Weg quer durch die Hofburg, vorbei an Schatzkammer, Kapelle und Schweizertor, hinüber zum Volksgarten …

Foto: Thomas Rottenberg

… und zum Sisi-Denkmal im Volksgarten. Schließlich ist die tragische Kaiserin so etwas wie die Schutzheilige aller Läuferinnen und Läufer. Jedenfalls hat mir das die Historikerin und Sisi-Forscherin Kathrin Unterreiner einmal so erklärt:

Sisi, die Land-Adelige aus Bayern, die halt blöderweise Frau des Kaisers in Wien geworden war, war am Hof todunglücklich: Protokoll, Intrigen, Engstirnigkeit und Rückständigkeit machten sie mürbe. Also versuchte sie auszubrechen. Der Enge davonzulaufen. Durchaus auch im Wortsinn. Denn neben ihrem rigiden und längst nicht mehr gesunden Ess(störungs)programm und diversen anderen Marotten, rannte sie. Meist in Schönbrunn. Und zwar in bodenlangen Kleidern, mit hochhackigen Schuhen – und in Mieder gepresst. Aber: Sie rannte.

Sissi lebt ebenfalls in Bayern. Die Sehnsucht nach dem Weg ins Freie kennt sie. Sie strahlte und lachte. "Sissi meets Sisi – was für eine Geschichte!"

Foto: Thomas Rottenberg

Tourismus ist eine affirmative Kiste: Jugendstil, Ringstraße, Franz & Sisi, Schönbrunn & Co – natürlich sind das Klischeebilder. Natürlich ist das alles abgeschmackt. Natürlich sind das Bilder, die man schon kennt, bevor man dort war. Nur: Ganz ohne Grund kommen nicht Millionen von Besucherinnen und Besuchern aus der ganzen Welt genau an solche Orte.

Nur mit gutem Marketing funktioniert das aber nicht: Die Plätze müssen auch etwas können. Seele haben. Und schön sein. Das sind sie auch. Wunderschön – auch wenn wir durch die Stadtroutine den Blick dafür oft verloren haben.

Darum tut es gut, die eigene Stadt hin und wieder durch fremde Augen zu sehen: "At home he feels like a tourist."

Foto: Thomas Rottenberg

Zum Abschied meinte Sissi Pärsch dann, dass "dieses Site-Running doch ein tolles Geschäftsmodell wäre. Wäre das nicht was?" Ja und nein. Auf dem Papier sieht das Konzept tatsächlich super aus.

Der Haken aber liegt im Detail: Mit einem einzelnen Gast kann man das Tempo laufen, das sich ergibt. Fotostopps und Erzählpausen dort machen, wo es individuell passt – oder versuchen, halbwegs in Bewegung zu bleiben. Mit einer Gruppe geht das aber nicht. Oder eben nur sehr schwer. Davon können die, die "Site-Running" professionell anbieten, Lieder singen. Ruth Riehle etwa. Aber das ist eine andere Geschichte. (Thomas Rottenberg, 24.3.2016)

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