Crouch analysiert in seinen Büchern seit Jahren die Aushöhlung der Demokratien zugunsten der Macht von internationalen Großkonzernen. Doch der linke Denker wehrt sich auch gegen übertriebenen Pessimismus. Die Erfolge von Rechtsextremen und Nationalisten etwa sieht er in einer globalisierten Welt als enden wollend.

Foto: Harry Schiffer

STANDARD: In Ihrem Buch "Postdemokratie" schrieben Sie vor über zehn Jahren, lange vor den TTIP-Verhandlungen, von der Macht globaler Konzerne und der Gefährdung der Demokratie. Ist es schlimmer gekommen als erwartet?

Colin Crouch: Ja, das ist es. Die großen Unternehmen werden immer mächtiger. In den Vereinigten Staaten haben wir den Beschluss des Obersten Gerichtshofs, dass Unternehmen dieselben Rechte haben wie Individuen, Politik zu finanzieren. Das ist sehr wichtig, denn die Kandidaturen in den USA werden alle von Milliarden unterstützt. Ohne ist ein Wahlkampf unmöglich. In Europa haben wir die Erfahrung der Eurokrise, wo nur die großen Banken alles kontrollierten.

STANDARD: Sie sprechen jetzt auch von der "Griechenlandkrise" ...?

Crouch: Ja, die Deutschen glauben, dass sie all das Geld den Griechen gegeben haben, aber das haben sie den eigenen Banken gegeben. Und TTIP heißt auch mehr Macht für große Banken. Dieses Abkommen würde sogar die wenigen Regulierungen aufweichen, also alles verschlimmern. Aber es gibt noch etwas, was ich, als ich "Postdemokratie" schrieb, noch nicht sah. Das, was Thomas Piketty uns bewiesen hat: Die Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den 1980er-Jahren war eine ganz ungewöhnliche Periode im Lauf der Geschichte. Die Ungleichheit war viel kleiner als vor dem Krieg. Jetzt kehren wir zur großen Ungleichheit zurück. Und ökonomische Ungleichheit bedeutet auch politische Ungleichheit, weil man ökonomische Macht braucht, um Politik zu kaufen, und politische Macht, um ökonomische Vorteile zu erlangen. Das ist eine Spirale.

STANDARD: Wann war die Ungleichheit zuletzt so groß wie heute?

Crouch: Auch da bin ich bei Piketty. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war die Ungleichheit in den Vereinigten Staaten viel niedriger als in Europa. In Europa herrschte große Ungleichheit am Ende der sogenannten Belle Époque. Aber nach dem Ersten Weltkrieg begann sich alles zu verändern, während in den USA wahrscheinlich heute die größte Ungleichheit herrscht.

STANDARD: Angela Merkel wurde für ihre Menschlichkeit gegenüber Flüchtlingen gelobt. Sie sagen, letztlich habe sie ökonomische Gründe.

Crouch: Ja, sie sagt das auch, und sie muss das sagen. Aber ich glaube, dass sie in dieser Sache ein gutes Vorbild für uns alle ist, auch wenn sie in Deutschland dafür weniger populär ist.

STANDARD: Wie sehen Sie Österreichs Schwenk in der Sache?

Crouch: Immer wenn viele Flüchtlinge kommen, werden die Rechtspopulisten lauter. Regierungen müssen achtgeben, dass sie nicht immer mehr die Rechtspopulisten unterstützen. Es ist problematisch, wenn man sagt, dass Flüchtlinge auch Probleme machen, dann hilft man den Rechtspopulisten. Wenn man gar nichts tut, obwohl es Angst in Teilen der Bevölkerung gibt, auch.

STANDARD: Wie kommt man aus dieser Zwickmühle heraus?

Crouch: Besonders wir Briten, die Franzosen und Amerikaner haben diese Krise befördert. Jetzt gibt es keine einfache Lösung mehr.

STANDARD: Wo in der EU fürchten Sie am meisten um Demokratie?

Crouch: In Ungarn. Aber da muss man sich fragen: Ist das Postdemokratie oder eher eine Vordiktatur? Vor 1990 war es das kommunistische Land mit mehr politischer Freiheit. Dass sich das so schnell gewendet hat, ist eine Tragödie. Aber das sind keine Spielarten der Postdemokratie, von der ich schreibe, eher Probleme einer jungen Demokratie. Erschreckend ist, dass es fast keine Proteste gibt.

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STANDARD: Welche Rolle haben die Neoliberalen in Europa?

Crouch: Neoliberalismus ist eine Ideologie für Eliten. Um populär zu sein, muss sie immer Verbindungen mit anderen Bewegungen haben. Mit Christdemokraten oder Konservativen, auch mit Sozialdemokraten wie Tony Blair und Gerhard Schröder. Schlagwörter wie "weniger Steuern" sind noch keine tiefschürfende Ideologie. Neoliberale haben ein Problem mit ihrem Verhältnis zum Rechtspopulismus. Denn sie sind ganz anders. Besonders sieht man das in Frankreich, wo der Front National einen großen Wohlfahrtsstaat nur für sogenannte echte Franzosen will. In Dänemark und Norwegen sehen wir aktuell, wie sich Neoliberale mit Rechtsextremen zusammentun. Das ist für sie sehr gefährlich, sie müssen überlegen, wie weit sie in diese Richtung gehen.

STANDARD: Wie geht es Konzernen mit dem rechtsextremen Aufwind?

Crouch: Großkonzerne brauchen Globalisierung. Sie sind die Globalisierung. Sie brauchen eine offene Welt. Wir sehen das in Großbritannien, wo wir jetzt im Zuge des Referendums über den EU-Austritt fremdenfeindliche Äußerungen beobachten. Die Konservativen sind dabei völlig gespalten. Die meisten der großen Konzerne und Banken sind für Europa. Aber es gibt einen romantisch-nationalistischen Teil von Konservativen, besonders in den Massenmedien, die gegen Europa stehen.

STANDARD: Hatten nicht immer schon Länder mit großen Boulevardmedien mehr EU-Gegner?

Crouch: Wir glaubten während der 1960er- und 70er-Jahre, dass wir alle Nostalgie für das Empire verloren hätten. Niemand sagt offen, wir wollen das Empire zurück, aber manchmal hört man es heraus. Kürzlich sagte etwa Ian Duncan Smith, Minister für Arbeit und Pensionen: "Wir sind die größte Nation der Welt." Er hat den Begriff Empire nicht verwendet, aber im Kontext gemeint, man habe die ökonomische Größe und Kapazität, allein in der Welt zu bestehen. Manche denken auch, Großbritannien hätte ohne EU bessere Beziehungen zu Ländern in anderen Teilen der Welt. Ein wundersamer Romantizismus. Wenn Sie "Daily Mail" oder "Daily Telegraph" lesen, können Sie ihn fühlen.

STANDARD: Diese Sehnsucht besteht aber nicht in allen Klassen, oder?

Crouch: Das werden wir sehen, wenn es das Ergebnis des Referendums gibt. Derzeit steht es unentschieden. Der Grund für die Popularität der Idee eines Austritts ist aber Immigration aus Osteuropa. Gegner Europas gibt es seit 30 Jahren. Viele sehen Flüchtlinge aus Syrien oder Libyen, obwohl wir gar keine haben, als Problem, das wir nur als Mitglieder haben. Es war auch Smith, der sagte, außerhalb der EU hätten wir kein Terrorismusproblem.

STANDARD: Wird es die EU in zehn Jahren noch geben?

Crouch: Es gibt tiefgreifende Probleme, aber einen großen Willen. Wenn man sich vorstellt, wie Gruppen etwa in Ungarn und Polen agieren würden. Es gäbe eine noch größere globale Krise. Und die EU ist die größte wirtschaftliche Macht der Welt. Die Normen für Produkte hier gelten global, weil niemand auf diesen Markt verzichten will. Ohne EU stürzt die Welt ins Chaos.

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STANDARD: Das riskiert man nicht?

Crouch: Das Problem ist: Um all diese Krisen zu lösen, brauchen wir mehr Politik auf europäischer Ebene. Griechenland etwa brauchte eine bessere EU-Politik, eine anspruchsvollere Sozialpolitik. Wir brauchen mehr Europa, aber bekommen immer weniger.

STANDARD: In ihrem Buch "Die bezifferte Welt" warnen Sie, dass der Informationsgesellschaft das Wissen verlorengeht. Wie kam das?

Crouch: Es gibt einen Konflikt zwischen dem Wissen darüber, wie man als einziges Ziel einer Tätigkeit Profit maximieren kann, und anderen Arten des Wissens, die von Profitmaximierung Kompromisse einfordern. Der VW-Abgasskandal war das perfekte Beispiel.

STANDARD: Vor Katastrophen wie auf der Deep Water Horizon haben Wissenschafter gewarnt. Haben Experten überhaupt noch Einfluss?

Crouch: Wenigstens bekamen diese Unternehmen hohe Geldstrafen. Nur so lernen sie, denn Geldstrafen schmälern Profite. Deshalb müssen wir für strengere Regulierungen kämpfen.

STANDARD: Das Internet öffnet auch Zugang zu Wissen. Warum glauben viele lieber Verschwörungstheorien als seriösen Quellen?

Crouch: Nicht alle Leute tun das. Im Internet sind auch echte Sachverständige zu finden. Es gab immer Menschen, die Unsinn glauben, das Internet hat uns hier nichts Neues gebracht!

STANDARD: In Deutschland und Österreich schimpfen derweil Rechte alle Medien Lügenpresse ...

Crouch: Aber in vielen Bereichen hat immer noch die Meinung von Experten Gewicht. Solche Konflikte und Kämpfe dauern eben, manchmal mit Siegen, manchmal mit Niederlagen. Wir dürfen den Pessimismus nicht übertreiben, sonst geben wir die Hoffnung auf. (Colette M. Schmidt, 2.4.2016)