Matteo Farinella und Hana Roš:
Neurocomic

Nobrow Press, London 2014
Hardcover, 144 Seiten, 18,40 Euro

Es war einmal ein Mann, der spazierte unverrichteter Dinge seines Weges, als er urplötzlich aufgelesen wurde – im wahrsten Sinn des Wortes: Er wird von den Seiten des Buches, in dem er offenbar lebt, weggesaugt und purzelt an einen ihm zunächst unbekannten Ort. "Neurocomic", ein Comic über die Welt des Gehirns, beginnt märchenhaft.

Foto: Nobrow Press

Die Umgebung, in der der Mann landet, erinnert an einen dichten Wald, voller feingliedrig verzweigter, kahler Bäume. Mittendrin stößt er auf einen altmodisch gekleideten Herrn, der dabei ist, die Gewächse zu skizzieren. Dieser klärt ihn auf, dass die Bäume Neuronen sind und er sich im Dschungel des Nervensystems befindet. "Du bist im Gehirn! Dem Kern deiner ureigenen Existenz...", sagt der Herr, der sich als Santiago Ramón y Cajal (1852–1934) entpuppt.

Rauferei im Neuronenwald

Der Spanier erhielt für seine Pionierarbeit auf dem Gebiet der Hirnforschung einen Nobelpreis und gilt als Vater der Neurowissenschaften. Während Cajal noch über das Geheimnis des menschlichen Geistes schwadroniert, stürmt ein Mann mit Schnauzer durch die dalíeske Szenerie herbei. Es ist der italienische Nobelpreisträger Camillo Golgi (1843-1926), der Cajal nicht die Lorbeeren alleine lassen will – schließlich hatte er eine Methode gefunden, um Neuronen überhaupt zum ersten Mal unter dem Mikroskop sichtbar zu machen. Das ganze endet in einer Rauferei im Neuronenwald.

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Diese Anfangssequenz gibt einen guten Vorgeschmack darauf, was einen beim Lesen des schönen Bändchens namens "Neurocomic" erwartet: Ein bisschen "Being John Malkovich", eine gute Portion "Alice im Wunderland", ein Stück Wissenschaftsgeschichte und vor allem ein wunderschön gezeichnetes Comic über die Funktionsweise des Gehirns.

Geschrieben und gezeichnet haben es zwei Hirnforscher, nämlich der ins Illustratorenfach gewechselte Matteo Farinella und Hana Roš, in Oxford promovierte Neurowissenschafterin, die am University College London arbeitet. Erschienen ist es beim feinen britischen Kunstverlag Nobrow Press, mit Unterstützung des Wellcome Trust, der weltweit größten Stiftung für biomedizinische Forschung.

Nobelpreisträger erklären das Hirn

Während der namenlose Protagonist unverhofft (und ziemlich unfreiwillig) durch Nervenzellen katapultiert wird und immer weiter in die Tiefen der Gehirnwindungen eindringt, übernehmen die historischen Kapazunder der Hirnforschung den Erklärpart. Das geht durchaus in die theoretischen Grundlagen der Neurobiologie – durch die einfallsreichen Illustrationen entwickelt das schnöde Wissen aber ein so anschauliches Eigenleben, dass das Ganze durchaus das Zeug hat, die Grundsätze der Prozesse im Hirn ebendort nachhaltig zu verankern.

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So schicken die Neurophysiologen Charles Scott Sherrington (1857–1952) und Bernard Katz (1911–2003) den Gehirnreisenden, ausgerüstet mit einem Fallschirm und eingesperrt in ein Vesikel aus Neurotransmittern, durch eine Synapse – natürlich erst, nachdem sie ihm deren Funktionsweise erklärt haben. Unser Mann ist aber trotzdem sichtlich überfordert, als er auf eine Reihe von skurrilen Kriegern trifft, die sich als Neurotransmitter wie Dopamin, Serotonin oder G.A.B.A. ausgeben und Medikamentenwürmer und Drogen-Ungeheuer bekämpfen.

Eric Kandel und die Nacktschnecke

Nachdem er im elektrischen Ozean von einem Riesenkraken angefallen wird, klaubt ihn ein gut gelaunter Eric Kandel am Strand auf. Der 1929 in Österreicher geborene Medizinnobelpreisträger, der vor den Nazis in die USA flüchtete, klärt den schon ziemlich mitgenommenen Protagonisten über die verschiedenen Arten des Gedächtnisses auf. Unterstützt wird er dabei von einer Gitarre spielende Nacktschnecke und einem Seepferdchen, das den Hippocampus, den Archivar des Gehirns, darstellt. Nebenbei hat auch der Pawlow'sche Hund seinen Auftritt.

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Und in diesem Sinne jagt "Neurocomic" seinen Helden in einer aberwitzigen Reise durch bizarre Gehirnlandschaften – bis dieser hoch oben auf einer Klippe auf Hans Berger trifft. Der deutsche Neurologe erfand 1924 das Elektroenzephalogramm (EEG), mit dem er erstmals Gehirnwellen messen konnte. Die zwei beginnen eine Debatte um philosophische Theorien rund um Geist, Gehirn und Seele und die Frage, inwieweit das Gehirn mehr ist als nur eine äußerst ausgeklügelte Maschine.

Grauzone Gehirn

Es ist die Verwebung von Fiktion, Fakten und Illustrationen, wie sie in keinem Lehrbuch zu finden sind, die "Neurocomic" so ansprechend macht. Recht sympathisch ist außerdem, dass die ganze Story geschickt eingebettet ist in die oft widersprüchlichen Wendungen der Wissenschaftsgeschichte und auch nicht darüber hinweggetäuscht wird, dass eben der allergrößte Teil unseres Gehirns noch dunkle Materie ist.

Ganz im Gegenteil, Matteo Farinella und Hana Roš nehmen diese Grauzonen als Sprungbrett, um ihre Fantasie spielen zu lassen und nehmen dabei Anleihen bei so verschiedenen Künstlern wie Hieronymus Bosch, M.C. Escher und Jim Woodring. Eine wohltuende Alternative zu den meist bemüht komischen und dabei ziemlich langweilig gezeichneten "Sachcomics", die normalerweise solche Themen abhandeln. (Karin Krichmayr, 19.4.2016)